🔍 Suche im Fantasykosmos
Spüre verborgene Pfade auf, entdecke neue Werke oder durchstöbere das Archiv uralter Artikel. Ein Wort genügt – und der Kosmos öffnet sich.
Weltliteratur meets Fantasy
🏛️ Der Prozess des Grashk (2)
Eine Fantasy-Adaption. Nach Motiven von Franz Kafka. 🤵🏻
Teil 2: Der Dachboden der Gerechtigkeit

Grashk ging an diesem Tag pünktlicher zur Arbeit als je zuvor.
Er hatte die Anklageschrift in der Nacht bestimmt zehnmal gelesen, bis die Tinte vor seinen Augen zu flimmern begonnen hatte. Der Satz war nicht länger geworden, nicht kürzer und nicht freundlicher. Am Ende hatte er die Rolle wieder neben sein Schreibzeug gelegt, sehr ordentlich, rechtwinklig zu den anderen Blättern, und war doch nicht dazu gekommen, auch nur eins davon zu sortieren.
Die Glocken des Turms zogen den Vormittag in die Länge. Jede Stunde klang wie die letzte, nur dass zwischen ihnen weniger Luft zu sein schien.
Er tat, was er immer tat: Er sortierte, er stempelte, er trug Akten von einem Tisch zum anderen. Nur dass ihm jedes Siegel wie ein Auge vorkam und jede Nummer wie ein Hinweis auf etwas, das er übersehen hatte.
„Du wirkst abgelenkt“, sagte seine Vorgesetzte zur dritten Stunde, eine Elbin mit einem Hauch von Parfüm und dem Temperament einer frisch geschnittenen Schreibfeder.
„Ich bemühe mich, Herrin,“ sagte Grashk. Er hätte ihr gerne von den Gerichtsboten erzählt, von der Rolle und dem Dachboden über der Kantine. Aber man sprach im Turm nicht aus sich heraus; man ließ von sich aus den Akten sprechen.
Zur sechsten Stunde war sein Stapel halb so hoch wie sonst. Die Vorgesetzte musterte ihn noch einmal, sagte aber nichts mehr. Vielleicht hatte sie es bereits vermerkt.
Als die Glocke der siebten Stunde ansetzte, war Grashks Mund trocken. Er legte die Feder ordentlich in die Rille des Tintenfasses, wischte sich die Hände an einem Lappen ab, als könne er damit etwas von sich lösen, das die Elben an ihm sahen, und ging.
Der Weg zur Ostflügeltaverne war ihm vertraut. Er war schon oft dort gewesen, allerdings aus Gründen, die mit Suppe, Brot und dem schwachen Bier für niedere Bedienstete zu tun hatten. Diesmal ging er mit geradem Rücken den Korridor entlang, als sei der Gang selbst ein Formular, das man nur richtig ausfüllen musste.
Die Taverne lag in einem der Zwischenhöfe, wo der Turm sich weniger wie ein Speer und mehr wie ein knorriger Baum verzweigte. Über der Tür hing ein Schild, auf dem einmal ein Krug und ein Brotlaib zu sehen gewesen waren. Mittlerweile war der Krug zu einem dunklen Fleck geworden und der Brotlaib sah eher aus wie ein missgelaunter Mond.
Als Grashk die Tür öffnete, schlug ihm der Geruch nach Eintopf, altem Fett und nassen Mänteln entgegen. Es war die vertrauteste Mischung im ganzen Turm. An den langen Tischen saßen Menschen, Zwerge, Orks, vereinzelte Elben niedriger Ränge – all jene, die das Gericht am Laufen hielten, ohne je von ihm gesehen zu werden.
Heute sah man ihn.
„He, Grashk!“ rief einer der Küchenjungen. „Kommst du schon zum Abendessen?“
Ein paar Köpfe drehten sich. Jemand lachte. Grashk hob eine Hand, ohne zu winken.
„Ich bin bestellt“, sagte er, und es klang in seinen eigenen Ohren, als hätte er ein falsches Wort benutzt.
Die Vorratskammer lag hinten links, hinter einem Vorhang, der mehr aus Fettflecken als aus Stoff bestand. Dort stapelten sich Säcke, Fässer und Kisten zu einem Geruch, den man nicht benennen konnte, ohne einen Teil seiner Würde zu verlieren.
Die Treppe war tatsächlich da.
Schmal, steil, aus Holz, das schon zu viele Jahre und zu wenig Handwerk gespürt hatte. Sie führte in einen dunklen Schacht hinauf. Es gab kein Schild, keinen Hinweis, nicht einmal einen Nagel mit einer Nummer. Nur Stufen, die so taten, als wären sie schon immer da gewesen.
Grashk legte eine Hand auf den ersten Balken. Er war kalt.
„Die Tür wird offen stehen, wenn es angemessen ist“, hatten sie gesagt.
Er stieg.
Die Luft wurde staubig, je höher er kam. Er hörte Stimmen von oben, gedämpft und unverständlich, wie durch ein Kissen. Nach der fünften Stufe knarrte die Treppe so laut, dass er kurz stehen blieb, aus Angst, jemand könnte ihm zurufen, dass er sich irre. Niemand rief. Die Stimmen wurden nur dichter.
Am Ende der Treppe war eine Tür. Sie war offen.
Es war keine dieser hohen, verzinnten Gerichtsportale, vor denen man knien wollte, bevor man sie überhaupt berührt hatte. Es war eine einfache Dachbodentür, das Holz vom Alter wellig, die Klinke stumpf. Das Licht fiel wie ein matter Streifen aus dem Spalt in den Treppenschacht zurück.
Grashk blieb einen Atemzug lang stehen. Dann klopfte er, obwohl es sinnlos war, sich bemerkbar zu machen, wo doch die Tür bereits für ihn aufstand, und trat ein.
Der Dachboden war voll.

Nicht geordnet voll, wie eine Aktenkammer, sondern voll wie ein Markt an einem schlechten Wettertag. Bänke standen in mehreren Reihen, die nie dazu gedacht gewesen waren, zueinander zu gehören. Darauf saßen Menschen, Orks, einige Zwerge, sogar zwei dieser seltsamen Skarn mit tief heruntergezogenen Kapuzen. Die Luft war warm und roch nach Wolle, Staub und der schwachen Hoffnungen vieler.
Über all dem hing das Dach wie ein schwerer Rücken. Balken zogen sich darüber, zwischen denen Spinnen und Späne gleichermaßen ihre Netze gespannt hatten. Ein paar schmale Fenster an der Giebelseite ließen Licht herein, das sich nicht recht entschließen konnte, ob es beleuchten oder nur neugierig starren wollte.
Vorne, auf einer leicht erhöhten Fläche aus zusammengezimmerten Kästen und Brettern, stand ein Tisch. Dahinter saß ein Elf in grauer Robe, vor sich ein Stapel Papiere. Neben ihm ein zweiter, der nichts tat, außer die Hände aneinanderzulegen, als wärmten sie sich an einem Feuer, das niemand sehen konnte.
„Setz dich“, zischte jemand neben Grashk. „Du stehst im Gang.“
Grashk sah sich um. Ein Mensch mit müdem Gesicht machte ihm Platz auf einer Bank, die bereits mehr Körper trug, als sie eigentlich sollte. Grashk drängte sich auf die Kante, seine Knie stießen an die Rückenlehne der vorderen Bank.
„Der Nächste,“ sagte der Elf am Tisch, ohne aufzusehen.
Ein dünner Mann irgendwo links stand auf, stolperte nach vorne und begann zu reden, bevor er überhaupt die Plattform erreicht hatte. Er redete schnell, mit brüchiger Stimme, und Grashk verstand nur jedes dritte Wort. Es ging um Land, um Grenzen, um eine Mauer, die nie dort gestanden hatte, wo sie jetzt lag.
Der Elf hörte zu, indem er nicht aufblickte. Er strich mit der Feder über ein Papier, machte kleine Zeichen, nickte gelegentlich, ohne dass klar war, ob dem Gesagten oder dem, was in seinem Kopf bereits feststand.
Nach einer Weile unterbrach ihn der zweite Elf mit einem leisen Hüsteln. „Du hättest früher kommen müssen“, sagte er zu dem Mann. „Dein Verfahren ist bereits fortgeschritten.“
„Ich war doch…“ Der Mann suchte nach einem Beweis in der Luft. „Ich stand an der Tür. Aber sie war zu.“
„Dann war es nicht der richtige Tag“, sagte der Elf. „Setz dich wieder. Deine Anwesenheit wurde vermerkt.“
Der Mann kehrte zurück, bleicher als zuvor. Die Bank nahm ihn auf, als sei nichts geschehen.
Es folgte eine Frau, die von einem Kind sprach, das nie geboren worden war, aber trotzdem in irgendeinem Register als Kostenstelle auftauchte. Ein Zwerg, dessen Name aus Versehen in einer Liste gestrichen worden war und damit aus der Stadt. Ein Ork, der schwieg und trotzdem schuldig aussah, weil er schwieg.
Grashk lauschte und lernte dabei nichts, außer dass es offenbar viele Arten gab, auf diesen Dachboden zu gelangen und keine, ihn wieder zu verlassen, ohne etwas verloren zu haben.
„Grashk, Sohn des Gorn.“
Der Klang seines eigenen Namens traf ihn wie ein Schlag zwischen die Schulterblätter. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass er überhaupt aufgerufen werden konnte, ohne dass ihm vorher jemand erklärt hatte, wie.
Die Köpfe in seiner Nähe drehten sich, nicht neugierig, sondern so, wie man ein Wort im Satz prüft, das man nicht selbst gewählt hat.
Grashk stand auf. Seine Beine waren schwer und fühlten sich gleichzeitig hohl an. Er drängte sich an Knien und Schultern vorbei nach vorne. Der Weg durch den Gang schien länger, als es der Dachboden hergab.
„Hier“, sagte er, als er die Plattform erreicht hatte, und war sofort sicher, dass es die falsche Antwort war.
Der Elf blickte zum ersten Mal zu ihm auf. Seine Augen waren hell und kühl, wie nasses Papier.
„Du bist spät“, sagte er.
Grashk blinzelte. „Die Tür war offen, Herr. Ich… wusste nicht, welcher Tag der richtige ist.“
„Der richtige Tag ist immer dann, wenn du nicht hier bist“, sagte der andere Elf trocken. „Setz dich.“
Grashk sah sich um. Es gab keinen Stuhl. Er blieb stehen.
„Du bist angeklagt vor dem Hohen Gericht von Aereth“, sagte der Elf am Tisch, als würde er ihm eine Nachricht überbringen, die längst angekommen war. „Das Verfahren ist eröffnet.“
„Wegen welcher Tat?“ fragte Grashk. Er hatte sich vorgenommen, die Frage ruhig zu stellen. Sie kam heraus, als hätte jemand seine Stimme an die Kante eines Blechs geschlagen.
Ein Murmeln ging durch den Raum. Es war kein offenes Lachen, eher das Geräusch, das entsteht, wenn viele Leute innerlich mit den Augen rollen.
Der Elf legte die Feder hin. „Es ist nicht üblich, dass der Angeklagte die Struktur des Verfahrens in Zweifel zieht“, sagte er.
„Ich zweifle nicht“, sagte Grashk schnell. „Ich… verstehe nur nicht.“
Der zweite Elf beugte sich zu ihm, soweit man sich beugen kann, ohne tatsächlich näher zu kommen. „Du arbeitest im Turm, Grashk Sohn des Gorn. Du kennst unsere Ordnung. Du weißt, dass keine Anklage ohne Grund erfolgt.“
„Aber der Grund steht nicht auf der Schrift“, sagte Grashk. „Es steht nur, dass ich angeklagt bin.“
„Dann weißt du jetzt das Wichtigste“, sagte der Elf. „Alles Weitere wäre nur Ausschmückung.“
Ein paar der Wartenden nickten, als hätte er etwas sehr Kluges gesagt.
Grashk merkte, dass seine Hände sich zur Faust schlossen. „Ich habe mich nie geweigert zu dienen“, sagte er. „Ich habe meine Klinge abgegeben, ich habe gelernt zu lesen, ich habe…“ Er suchte nach etwas, das nach mehr klang als nach einer Liste von Anpassungen. „Ich habe nie gegen das Gesetz verstoßen.“
Der Elf hob eine Augenbraue. „Das ist eine sehr weitreichende Behauptung.“
„Es ist die Wahrheit“, sagte Grashk.
„Wahrheit ist nicht der Maßstab des Verfahrens“, sagte der andere Elf, fast sanft. „Ordnung ist es.“
Ein leiser, dünner Applaus huschte durch den Raum, mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung.
„Du bist hier, weil du angeklagt bist“, sagte der Elf am Tisch. „Damit ist klar, dass etwas getan werden muss. Das Gericht wäre nachlässig, wenn es deine Anklage nicht ernst nähme. Wünschst du dir Nachlässigkeit?“
„Nein, Herr.“
„Also.“

Die Feder nahm wieder ihren Platz in seiner Hand ein, als hätte sie sich nur kurz ausgeruht. „Wie verhältst du dich zum Verfahren?“
Die Frage war so glatt, dass Grashk kurz meinte, er hätte sie falsch verstanden. „Ich… erscheine“, sagte er. „Ich entziehe mich nicht.“
„Wir vermerken also Bereitschaft zur Mitwirkung“, sagte der Elf. Die Feder kratzte über das Papier. „Allerdings gekoppelt mit inhaltlicher Unklarheit und mangelnder Einsicht in die Notwendigkeit der Anklage.“
„Ich habe nicht gesagt, dass…“
„Deine Worte liegen vor“, unterbrach ihn der andere. „Du musst sie nicht wiederholen. Das würde nur zu einer Erweiterung der Notiz führen.“
Grashk fühlte, wie das Blut in seinem Kopf rauschte. „Kann ich jemanden sprechen, der für mich… also, der…“ Er rang nach dem elbischen Wort, das weniger gefährlich klang als „verteidigen“. „…der das Verfahren kennt.“
„Du meinst einen Rechtskundigen“, sagte der Elf. „Es ist ein gutes Zeichen, dass du Hilfe brauchst. Es zeigt, dass du die Schwere deiner Lage zu erkennen beginnst.“
„Dann… bekomme ich jemanden?“
„Das Gericht wird prüfen, ob deine Angelegenheit die Mithilfe eines Rechtskundigen rechtfertigt“, sagte der Elf. „Bis dahin solltest du dich bemühen, dich dem Verfahren angemessen gegenüber zu verhalten.“
„Was heißt das?“
„Sei hier.“
Grashk starrte ihn an. „Ich bin hier.“
„Heute“, sagte der Elf. „Das Verfahren wird fortgesetzt. Es wäre nachteilig für dich, wenn du beim nächsten Mal nicht rechtzeitig an einem der Orte erscheinst, an denen es stattfindet.“
„An einem der… welche Orte?“
„An den dir bekannten“, sagte der andere Elf. „Und denen, die noch folgen.“
Grashk öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber irgendein alter Instinkt, von dem er schon gedacht hatte, er hätte ihn mit seiner Klinge zusammen abgegeben, zog ihm die Worte zurück. Er nickte.
„Gut“, sagte der Elf. „Deine Haltung wurde vermerkt.“
Er setzte einen letzten Strich unter das, was er über ihn geschrieben hatte, klopfte unsichtbaren Staub von der Seite und sah an Grashk vorbei in den Raum, während er das Dokument so zu ihm drehte, das er für einen Moment glaubte, die Schrift lesen zu können. Doch starrte er nur auf ihm unbekannte Runen.
„Der Nächste.“
Grashk merkte, dass er entlassen war, lange bevor jemand es aussprach. Er wandte sich ab, die Plattform knackte unter seinen Schritten, der Dachboden murmelte weiter, als hätte er nur kurz die Luft angehalten.
Auf der Bank, von der er gekommen war, saß inzwischen jemand anderes. Es war, als hätte sein Körper dort nie gesessen.
Er stieg die Treppe hinunter, Schritt für Schritt, in eine Küche, in der man ihn nicht ansah, und in einen Turm, der mit jeder Stufe weniger wie ein Ort und mehr wie ein Mechanismus wirkte.
Unten, in seinem Schreibzimmer, lag die Anklageschrift noch immer dort, wo er sie gelassen hatte. Der Satz hatte sich nicht verändert. Vielleicht hatte sich nur der Raum darum ein wenig verschoben.
Grashk, Sohn des Gorn, ist angeklagt vor dem Hohen Gericht von Aereth.
Er setzte sich an seinen Tisch, nahm die Feder, tauchte sie in die Tinte und begann, die Listen zu sortieren.
Er erledigte seine Arbeit besser als jemals zuvor.
Fortsetzung folgt…
Dir hat diese Story gefallen? Du findest bei uns laufend neue Fantastic Shorts aus den Federn unserer Autoren. Hinzu kommen nun auch unsere mehrteiligen Geschichten aus der Kategorie „Weltliteratur meets Fantasy“. Du möchtest ein wenig mehr über die Geschichte hinter den Geschichten wissen: Dieser tolle Artikel über Fantasy öffnet dir die Augen.



