Hayley Gelfuso: Das Buch der verlorenen Stunden (Rezension)

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Grabhaold checkt das. Die Kurzzusammenfassung der Review. Mit Grabhod dem Kobold, der einen Zeigefinger in die Luft streckt.

Hayley Gelfuso: Das Buch der verlorenen Stunden

📚 Kurzfazit
Atmosphärische Erinnerungs-Fantasy mit historischem Gewicht, die magische Bibliotheken, Pogromnacht und Kalten Krieg in einen Roman spannt. Stark in Thema und Stimmung, etwas zaghaft in der Ausgestaltung der Magie.

😒 Was nervt?
Der „Zeitraum“ funktioniert eher als poetisches Bild denn als klar geregeltes Magiesystem. Wer harte Fantasy-Logik liebt, wird sich an Lücken und einem Finale stören, das mehr andeutet als erklärt. Manche Passagen wirken erzählerisch zu ausgedehnt, bevor die Handlung wieder Fahrt aufnimmt.

✨ Was funktioniert?
Die Idee einer magischen Erinnerungsbibliothek, in der Zeithüter und Regierungsstellen um die Deutungshoheit über Geschichte kämpfen. Lisavet als Figur zwischen Pogromtrauma, Verantwortung und erster Liebe. Die Verschränkung von jüdischer Verfolgung, Kaltem Krieg und spekulativer Magie.

🧠 Figuren und Welt
Lisavet, Ernest und Amelia tragen das Buch als kluges Dreieck aus Trauma, Schuld und Hoffnung. Die Welt des „Zeitraums“ bleibt bewusst entrückt, die historische Kulisse (Nürnberg 1938, USA der 1960er) wirkt dagegen konkret und greifbar.

🐦 Crowbah meint
Kein Wohlfühl-Bibliotheksroman zum Einschlafen, sondern eine leise, nachhallende Erinnerungsgeschichte mit Fantasy-Antrieb. Wer „Midnight Library“ mochte und sich mehr historische und politische Schärfe gewünscht hat, ist hier richtig.

⏰ Das Buch der verlorenen Stunden: Wenn Erinnerung zur gefährlichsten aller Magien wird

Der Zeitraum

Im Jahr 1938 wird die elfjährige Lisavet Levy, Tochter eines jüdischen Uhrmachers in Nürnberg, von ihrem Vater durch eine verborgene Tür gestoßen. Dahinter liegt der Zeitraum, eine gewaltige Bibliothek außerhalb der Zeit, in der die Erinnerungen jedes Menschen als Buch archiviert sind.

Zeithüter wachen darüber, welche Bände bleiben und welche im Feuer enden. Es ist ein Ort zwischen Archiv, Friedhof und Waffendepot. Lisavets Vater verspricht, nachzukommen. Er kommt nicht.

Lisavet wächst zwischen Regalen auf, lernt, in den Erinnerungen Verstorbener zu lesen und die Welt nur durch die Lebensläufe anderer zu sehen. Irgendwann versteht sie, dass es Wesen und Institutionen gibt, die die Bibliothek benutzen, um Geschichte umzuschreiben.

Erinnerungen als Kriegsgebiet

Jahrzehnte später, 1965 in den USA: Amelia Duquesne trauert um ihren Onkel Ernest, einen verschwundenen Spion. Ein CIA-Agent taucht auf und behauptet, Ernest habe Zugang zu einem Ort gehabt, an dem Erinnerungen gespeichert werden. Amelia soll ihm helfen, ein bestimmtes Erinnerungsbuch zu finden. Der Weg führt sie in den Zeitraum – und mitten hinein in einen verdeckten Krieg um Vergangenheit und Wahrheit.

Die Leben von Lisavet, Ernest und Amelia verknüpfen sich im Zeitraum, während Zeithüter, Geheimdienste und andere Akteure Bücher aus den Regalen ziehen, Seiten verbrennen oder heimlich neue Erinnerungen schreiben. Jede Entscheidung verschiebt die Welt, die draußen weiterläuft.

Zentraler Konflikt: Wer darf entscheiden, welche Erinnerungen bleiben, welche Menschen im kollektiven Gedächtnis weiterleben und wessen Leben so gründlich gelöscht wird, als hätte es sie nie gegeben


🧭 Worum geht’s eigentlich?

Lou arbeitet im Supermarkt von Magnolia Grove, redet sich ihr Leben schön klein und unauffällig und versucht vor allem eines: ihre Gabe konsequent zu ignorieren. Seit ihrer Kindheit sieht sie Geister und kann mit ihnen plaudern wie andere Leute mit ihrem Therapeuten. Blöd nur, dass ihre Mutter dieses Talent früher als Gelddruckmaschine und Machtinstrument missbraucht hat. Lou hat daraus eine wichtige Lektion gelernt: Schmerz, Schuld und Tote schiebt man am besten weit, weit weg.

Dummerweise haben Geister keine Lust auf Ignorieren. Immer häufiger tauchen sie bei Lou auf und tuscheln, dass der Schleier zur anderen Seite bedenklich dünn wird. Während sie noch versucht, das als kollektive Paranoia abzutun, häufen sich merkwürdige Vorfälle. Menschen benehmen sich seltsam, ein Bestatter wirkt plötzlich ungesund interessiert an bestimmten Leichen, und auf dem Friedhof kriechen Dinge herum, die eigentlich unter der Erde bleiben sollten.

Nach und nach stellt Lou fest, dass sie nicht die einzige Begabte in der Stadt ist. Ihr älterer Nachbar Mortie hat seine ganz eigene Form von Empathie. Ihre Supermarktkollegin und ein unscheinbarer Manager verbergen Fähigkeiten, die deutlich über das kunstvolle Stapeln von Konserven hinausgehen. Dazu kommt ein Polizist, der erschreckend entspannt damit umgeht, dass Lou regelmäßig mit Luft Konversation betreibt.

Als klar wird, dass ein Nekromantenkult die Stadt als Experimentierfeld missbraucht und ein uralter Lich die Grenze zwischen Leben und Tod endgültig niederreißen will, ist Schluss mit Wegducken. Entweder Lou akzeptiert ihre Gabe und lernt, sie bewusst einzusetzen, oder Magnolia Grove wird zur Geisterstadt im ganz wörtlichen Sinn. Im Finale steht sie vor einem Angebot, das alles ändern könnte: als Queen of the Dead über Lebende und Tote zu herrschen. Ihre Entscheidung definiert nicht nur die Zukunft der Stadt, sondern auch, wer sie wirklich sein will.

🔍 Stärken & Schwächen

🖋 Stil

Gelfuso schreibt in der deutschen Übersetzung angenehm flüssig, mit einem Ton, der zwischen märchenhaft und sachlich wechselt. Der Zeitraum wird in Bildern beschrieben, die eher an Kai Meyer im Graphischen Viertel und an „Momo“ als an knallige Urban-Fantasy erinnern.

Die Sprache kann poetisch und zart sein, dann wieder sehr klar, wenn es um Verfolgung, Pogrome und politische Eingriffe in die Bibliothek geht. Gelegentlich kippt sie in leicht kitschige Erinnerungs-Monologe; insgesamt überwiegt aber ein stimmiger, atmosphärischer Erzählton.

Wer superknappe, minimalistische Prosa sucht, wird hier eher nicht fündig. Das Buch will ein „Schmöker“ sein und ist stilistisch genau so ausgelegt.

🧍‍♂️ Figuren

Lisavet ist das emotionale Herz des Romans. Ein Kind, das in einem magischen Raum aufwächst, den man ihr als Zuflucht verkauft hat und der sich als Gefängnis entpuppt. Ihre Mischung aus kindlichem Staunen, jüdischer Familiengeschichte und wachsender Wut darüber, wie andere über Erinnerungen verfügen, funktioniert sehr gut.

Ernest, der Zeitwächter und Spion, verkörpert den Konflikt zwischen offizieller Geschichtsschreibung und persönlicher Moral. Seine Entscheidungen hängen über dem Plot wie eine Zeitbombe, ohne dass er selbst ständig auf der Bühne stehen muss.

Amelia bringt eine zweite Perspektive hinein: eine Teenagerin der 1960er, gefangen zwischen Familienloyalität, CIA-Auftrag und einem Raum, in dem ihre eigene Lebensgeschichte plötzlich nur noch eine von vielen ist. Ihre Sicht sorgt dafür, dass das Buch nicht nur ein „Zweiten-Weltkrieg-Plus-Magie“-Roman bleibt, sondern ein Bogen bis in die Ära Kalter Krieg und Geheimdienste gespannt wird.

Nebenfiguren wie andere Zeithüter und Bewohner des Zeitraums sind solide gezeichnet, bleiben aber klar zweite Reihe. Das ist konsequent, denn die eigentliche Hauptfigur ist ohnehin der Raum selbst.

🌍 Worldbuilding und Magie

Hier liegt der größte Reibungspunkt für klassische Fantasy-Leser.

Die Regeln der Bibliothek werden angedeutet: Zugang über spezielle Uhren, Zeiträume, in denen man sich bewegen kann, Bücher als Gefäße von Erinnerungen Verstorbener, Zeithüter mit Entscheidungsgewalt.

Was das Buch nicht tut: ein sauber ausgearbeitetes Magiesystem liefern, das man in Tabellenform skizzieren könnte. Vieles bleibt bewusst mystisch, einige Mechanismen wirken eher so, als würden sie im Dienst der Szene leicht verbogen. Kritische Rezensentinnen bemängeln genau das und sprechen von einem „vage konstruierten Magiesystem“ und einer etwas „unscharfen“ Ausgestaltung des Settings.

Je nachdem, von welcher Seite du kommst, ist das:

  • ein Problem, weil du Logik-Lücken siehst
  • oder ein Feature, weil der Zeitraum mehr Gleichnis als Spielsystem ist.

🕒 Tempo & Struktur

Der Roman arbeitet mit zwei Zeitebenen, vielen Zeitsprüngen und Rückblenden in Form von gelesenen Erinnerungsbüchern. Das führt zu einer Struktur, die eher einem langsam anwachsenden Gewebe als einer klaren Drei-Akt-Plotte folgt.

Viele Leser feiern das und sprechen von einem „emotionalen Film im Kopf“, der zwar ohne große Twists auskommt, aber ständig eine unterschwellige Spannung hält.

Andere empfinden das Tempo vor allem im Mittelteil als zäh. Die Balance zwischen persönlicher Geschichte, historischen Passagen und Spekulation ist nicht immer perfekt.

Positiv: Das Buch läuft nicht auf einen groben Zeitreise-Gimmick hinaus, sondern bleibt dem Thema treu: Erinnerung, Löschung, Verantwortung. Das Finale erklärt nicht jeden Mechanismus, legt aber zentrale emotionale Konflikte sauber ab.

✨ Atmosphäre

Hier spielt „Das Buch der verlorenen Stunden“ seine größte Stärke aus.

  • Erinnerung und Macht: Die Frage, wer die Hoheit über Geschichte hat. Diktaturen, Geheimdienste, Bürokratien, aber auch wir selbst, wenn wir verdrängen oder umdeuten.
  • Jüdische Erfahrung: Lisavets Ausgangspunkt in Nürnberg 1938, ihre Rettung in den Zeitraum, ihr Blick auf die Vernichtung von Leben und Erinnerungen. Das ist nicht bloße Kulisse, sondern prägt den gesamten Roman.
  • Liebe über Zeiten hinweg: Zwischen Lisavet und Ernest, aber auch zwischen Generationen und über Ländergrenzen. Zeitreise-Romance ja, aber deutlich ernster und weniger eskapistisch als die Genre-Schublade „Time Travel Romance“ vermuten lässt.

Die Atmosphäre erinnert an eine Kreuzung aus Geschichtsroman, spekulativer Fiktion und leiser, philosophischer Fantasy. Wer „Momo“, „The Midnight Library“ oder „The Ministry of Time“ mochte, findet hier eine deutlich melancholischere, jüdisch geerdete Variante desselben Grundmotivs.


⚖️ Vergleich mit anderen „magischen Bibliotheken“

Die letzten Jahre waren voll mit „Bücher über Bücher“ und magischen Archiven.

  • „The Midnight Library“ von Matt Haig: persönliche Lebenshilfe-Fantasy, die Depression und Suizidgedanken mit einem Multiversum aus möglichen Lebenswegen verbindet.
  • „The Book of Doors“ (Gareth Brown) oder „Addie LaRue“ (V. E. Schwab): Buchmagie plus Verträge, Erinnerungsverlust, Unsterblichkeit.
  • „Das Buch der verlorenen Stunden“ steht ein paar Häuser weiter hinten.

Statt „Du darfst lernen, dich selbst zu lieben“ lautet die Botschaft eher:
„Du bist für deine Erinnerung verantwortlich. Und für die Geschichten, die du über andere erzählst.“

Das Buch ist damit näher an politischen Fragen als an Selfcare.


📜 Fazit:

„Das Buch der verlorenen Stunden“ ist ein Debüt, das deutlich mehr will als die nächste Wohlfühl-Fantasy über eine magische Buchhandlung. Es verbindet einen konsequent phantastischen Kern – die Bibliothek, den Zeitraum, die Zeithüter – mit klar verorteter Geschichte: Pogromnacht, Kalter Krieg, Geheimdienste, Zensur.

Die Schwächen liegen im Detail des Worldbuildings. Wer ein streng durchkalkuliertes Magiesystem liebt, wird an den Regeln der Bibliothek herummeckern. Wer einen knalligen Spannungsbogen mit vielen Twists erwartet, könnte das Tempo gelegentlich als zu ruhig und den Schluss als zu weich empfinden.

Die Stärken liegen im, nun ja, Gedächtnis des Textes. In Lisavets Blick auf eine Welt, die sie nur durch fremde Erinnerungen kennt. In Amelias Entdeckung, dass die Lücken im Familiengedächtnis politisch sind. Und in der leisen, unangenehmen Erkenntnis, dass jeder Brand im Zeitraum immer auch ein realer Brand draußen in der Welt war.

🌟 Bewertung

Varanthis-Skala: ★★★
„Ein stiller, vielschichtiger Erinnerungs-Roman mit magischer Bibliothek, der atmosphärisch glänzt und thematisch viel wagt, sich aber beim Magiesystem nicht ganz traut, so präzise zu sein, wie sein Thema es verdient.“

Cover von Queen of the Dead: großer gelber Vollmond vor dunkelblauem Hintergrund, darum stilisierte Blumen und zwei türkisfarbene Bücher mit Totenkopf, unten ein türkisfarbener Grabstein mit Riss.

Autorin: Hayley Gelfuso
Titel: Das Buch der verlorenen Stunden (The Book of Lost Hours)
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Übersetzung: Christine Blum, Jens Plassmann
Seitenanzahl: 480 (Gebundene Ausgabe)
Erstveröffentlichung: 2025
ISBN: 978-3-423-28496-7

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