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Fantasy History (9): Der Weg nach Narnia – Fantasy für Kinder wird groß
„There is a curtain, thin as gossamer, clear as glass, strong as iron, that hangs forever between the world of magic and the world that seems to us to be real.“ – E. Nesbit, The Enchanted Castle
Als Lucy durch den Wandschrank trat, betrat sie nicht nur ein verschneites Märchenreich, sondern auch eine neue Ära der Kinderfantasy. The Lion, the Witch and the Wardrobe von C. S. Lewis (1950) markiert einen Wendepunkt – nicht nur literarisch, sondern auch kulturell. Was einst Spielerei war, wurde jetzt Weltentwurf. Und aus Kinderbüchern wurden Portale in tiefe, komplexe Universen.

Die Magie des Alltags: E. Nesbit als Pionierin
Der eigentliche Grundstein für diese Entwicklung wurde jedoch früher gelegt – und zwar von einer Autorin, die heute oft unterschätzt wird: E. Nesbit. Mit Büchern wie Five Children and It (1902) oder The Enchanted Castle (1907) führte sie die Magie nicht nur in die Welt, sondern in den Alltag ein. Ihre Kinder stolpern nicht in ferne Reiche, sondern finden das Fantastische im Staub des Vorgartens oder im Schuppen hinterm Haus.
Nesbit war witzig, progressiv und literarisch raffiniert – und sie erfand praktisch das Genre der modernen Urban Fantasy für Kinder. Ihre Geschichten sind ironisch, klug und voller subversiver Unterströmungen, gerade was Geschlechterrollen und Autorität angeht. Wer heute Kinderfantasy schreibt, verdankt ihr mehr, als er weiß.
Mary Poppins und der Aufstand der Nannys
Dann kam P. L. Travers – mit einem Regenschirm, einem Koffer und einer Figur, die man bis heute nicht richtig zu fassen bekommt: Mary Poppins. Travers’ Bücher (ab 1934) wirken auf den ersten Blick harmlos, doch sie sind voll schräger Magie, spiritueller Symbolik und leiser Anarchie. Poppins ist keine Fee, kein Engel – sie ist ein kosmisches Mysterium mit Handtasche.
Die Autorin lehnte jede Disneyfizierung ab und bestand auf der Ambivalenz ihrer Figur: Mary ist rettend und furchteinflößend, liebevoll und streng, humorvoll und unergründlich. Travers brachte damit eine Tiefe in die Kinderfantasy, die noch heute fasziniert – und auch irritiert. Ihre Bücher sind keine Kuschelliteratur, sondern verschlüsselte Mythenlektionen im viktorianischen Kostüm.
Narnia und die Frage nach dem Glauben
Mit C. S. Lewis schließlich wurde die Kinderfantasy endgültig zum Welterfolg – aber auch zum Schlachtfeld für Deutungen. Seine Chronicles of Narnia (1950–1956) verbinden klassische Märchenmotive mit christlicher Symbolik, mythischer Allegorie und moralischer Erzählstruktur. Doch wer nur die Bibelparallelen sieht, unterschätzt die Vielschichtigkeit dieser Welt.
Denn Narnia ist nicht nur Erbauungsliteratur. Lewis experimentiert mit Zeit, Identität, Tod und Erlösung – und das alles in einer Sprache, die kindlich leicht, aber nie simpel ist. In The Magician’s Nephew wird die Erschaffung der Welt thematisiert, in The Last Battle deren Ende. Und mittendrin: sprechende Tiere, Zentauren, fliegende Pferde und ein Löwe, der Erlösung bringt – oder auch nur einen guten Rat.
Von Pädagogik zu Poesie
Die Kinderfantasy der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war ein Spannungsfeld zwischen pädagogischem Anspruch und poetischer Freiheit. Autoren wie Nesbit, Travers und Lewis schrieben über Kinder, aber nicht herablassend. Sie nahmen sie ernst – als Leser, als Figuren, als Fragende. Magie war dabei nie Selbstzweck, sondern Mittel zur Erkenntnis, zur Grenzüberschreitung, zur inneren Wandlung.
Und das war neu. Wo Märchen oft belehren wollten, begannen diese Geschichten, das Kind in seiner eigenen Welt zu verorten – nicht als moralisches Projekt, sondern als eigenständige Perspektive. Das machte sie so nachhaltig – und so wirkmächtig.
Fazit: Der Wandschrank steht offen
Die Kinderfantasy des 20. Jahrhunderts war kein Rückzugsort, sondern ein Experimentierfeld. Hier wurde mit Religion, Rollenbildern, Mythologie und Sprachstruktur gespielt – mal wild, mal weise. Es war eine Literatur, die den Ernst des Lebens in Fantasie kleidete – und dabei etwas Tieferes fand als bloße Unterhaltung.
Und so steht er noch immer da, dieser Schrank. Offen. Wartend. Auf Leser, die bereit sind, die Schwelle zu überschreiten – und mit staunenden Augen einer neuen Welt zu begegnen.
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