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Fantasy History (8): Zwischen Pudding und Panik – Die schräge Fantasy der Jahrhundertwende
„To die would be an awfully big adventure.“ – J. M. Barrie, Peter Pan (1904)
Was haben ein sprechender Hutmacher, ein Mädchen mit magischen Schuhen und ein Junge, der nie erwachsen wird, gemeinsam? Sie alle entstammen einer Zeit, in der die Grenzen der Realität ins Wanken gerieten – literarisch wie gesellschaftlich. Die Jahrhundertwende war nicht nur Epoche des Fortschritts, sondern auch ein Goldalter des Skurrilen. Kinderliteratur wurde zum Experimentierfeld – und Fantasy zur Einladung, die Wirklichkeit auf den Kopf zu stellen.

Wunderland, Oz und andere Welten
Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1865) gilt heute als Klassiker, war damals aber eine stilistische und strukturelle Revolution. Keine Moral, keine lineare Logik – stattdessen ein Strom absurder Episoden, ironischer Sprachspiele und Traumlogik. Carrolls Alice ist mehr als eine Heldin: Sie ist ein Medium des Chaos, ein Spiegel für eine Welt, die ihren Verstand verliert.
Kurz danach zauberte L. Frank Baum mit The Wonderful Wizard of Oz (1900) ein ganz anderes Portal: bunter, zugänglicher, aber ebenfalls ein Angriff auf die Gewissheiten des Alltags. Dorothy wird durch einen Tornado in eine andere Welt geschleudert – ein Prototyp für unzählige Fantasygeschichten, in denen normale Kinder in fantastische Welten geraten. Was Carrolls Traum war, wurde bei Baum zum Sturm.
Peter Pan und der ewige Kindheitsfluch
Und dann kam Peter. J. M. Barries Peter Pan, zuerst als Theaterstück (1904) und später als Roman (1911), brachte den Archetyp des „magischen Kindes“ auf die Bühne – und zeigte zugleich dessen Schattenseiten. Neverland ist kein Paradies, sondern ein Ort der Repetition, des ewigen Spiels ohne Reife. Pan ist ebenso verführerisch wie tragisch: ein Symbol für die Angst vor dem Erwachsenwerden in einer Welt, die sich rasend verändert.
Barries Einfluss kann kaum überschätzt werden. Seine Sprache, seine Bildwelt, seine Idee von der magischen Anderswelt mitten im Park (die Kensington Gardens!) prägten die Urban Fantasy genauso wie das spätere Jugendbuchgenre. Der Fantastische Raum war nicht länger irgendwo hinterm Spiegel – sondern an der nächsten Straßenecke.
Edwardianischer Irrsinn
Die Jahrhundertwende war voller Doppeldeutigkeiten. Während die Welt sich technisierte, brach in der Kinderliteratur ein regelrechter Feenboom aus: Elfen, sprechende Tiere, verzauberte Objekte. Edwardianische Autoren wie E. Nesbit (die Psammead-Bücher) verbanden Alltag und Magie auf so beiläufige Weise, dass der Übergang kaum merklich war – ein Stilmittel, das bis heute nachwirkt.
Gleichzeitig trieb man die Skurrilität auf die Spitze: wandelnde Puddings, selbstgerechte Pilze, tanzende Möbelstücke. Es war eine Ära, in der das Absurde seine eigene Logik entwickelte – eine surreale Fantasieform, die sich zwischen Traum und Satire bewegte. Heute würde man sagen: Proto-Magic-Realism für Kinder.
Der Ursprung von Portal- und Urban Fantasy
Was all diese Geschichten verband, war der Bruch mit der klassischen Märchendramaturgie. Kein Wald, keine moralische Lehre, kein Happy End im traditionellen Sinn. Stattdessen: ein Gefühl des Staunens, aber auch der Irritation. Diese neue Art von Fantasy schuf keine abgeschotteten Märchenreiche – sie ließ die Magie in unsere Welt einsickern.
Der Schrank zu Narnia, das Gleis 9 ¾ – all das wäre ohne Carroll, Baum und Barrie undenkbar. Ihre Geschichten legten den Grundstein für moderne Portal Fantasy und Urban Fantasy, lange bevor diese Begriffe überhaupt existierten.
Fazit: Zwischen Albernheit und Abgrund
Die Fantasy der Jahrhundertwende ist wie ihr berühmtester Vertreter: Peter Pan. Verspielt, schwebend, schwer fassbar – aber nie harmlos. Sie stellt Fragen nach Identität, nach Realität, nach dem, was Kindheit eigentlich bedeutet. In einer Welt, die immer rationaler wurde, entstand ein neues Bedürfnis nach dem Irrationalen.
Und vielleicht ist das der Kern dieser Ära: Sie nahm das Kind ernst – nicht als Zielgruppe, sondern als Perspektive. Und das machte ihre Fantasy so wild, so seltsam und so nachhaltig wirkungsvoll.
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