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Gothic & Grauen – Die dunkle Geburt der modernen Fantasy
„I am thy creature: I ought to be thy Adam, but I am rather the fallen angel…“ – Mit diesen Worten lässt Mary Shelley ihr erschaffenes Monster sprechen. Es ist 1818, und Frankenstein wird geboren – nicht nur als Urknall der Science-Fiction, sondern auch als ein finsteres Urbild der modernen Fantasy. Shelley verknüpft Wissenschaft mit Mythos, Vernunft mit Wahnsinn – und macht deutlich: Die Monster, vor denen wir uns fürchten, kommen oft aus unserem eigenen Innersten.

Schauerliche Ursprünge: Die Gothic Novel
Bevor Tolkien Elben erfand und Rowling Zauberstäbe schwang, durchlebte die Literatur eine Epoche voller Nebel, Spukhäuser und geisterhafter Gestalten. Die sogenannte Gothic Novel, geboren im 18. Jahrhundert, erreichte im viktorianischen Zeitalter ihren morbiden Höhepunkt. Hier verschwimmen Grenzen: zwischen Tod und Leben, Vernunft und Wahnsinn, Realität und Albtraum. Die Handlung spielt oft in verfallenen Schlössern oder düsteren Gewölben – ein Sinnbild für die Seelenzustände der Figuren.
Wichtige Vertreter:
- Mary Shelley (Frankenstein, 1818): Der erste künstlich erschaffene Mensch, zwischen Horror und Mitleid. Eine Erzählung über Hybris, Verantwortung und das Fremdsein.
- Bram Stoker (Dracula, 1897): Der untote Aristokrat als Sinnbild für viktorianische Sexualängste und das Fremde – eine Allegorie auf Kontrolle, Krankheit und Kolonialismus.
- Edgar Allan Poe: Kein Roman, aber Dutzende Erzählungen – alle getränkt in Wahnsinn, Obsession, Verfall. „The Fall of the House of Usher“ bleibt ein Paradebeispiel für gotischen Verfall.
- Ann Radcliffe: Pionierin der Gothic Novel – ihre Heldinnen wandeln durch Ruinen und innere Abgründe, stets zerrissen zwischen Furcht und Faszination.
- Robert Louis Stevenson (Dr. Jekyll und Mr. Hyde, 1886): Die vielleicht klarste Allegorie auf das doppelte Wesen des Menschen.
Die Geburt der inneren Welt
Fantasy entsteht nicht nur durch äußere Welten, sondern durch das, was im Inneren brodelt. Die Gothic Novel war besessen vom Unterbewusstsein. Noch bevor Freud sein Sofa aufstellte, behandelten viktorianische Autor:innen Themen wie:
- unterdrückte Wünsche
- gespaltene Identität
- Schuld und Sühne
- Angst vor dem Fortschritt
- das Grauen vor dem Ich
Diese Geschichten gaben dem Unheimlichen ein Gesicht – oft das eigene.
Symbolik & Motive:
- Spiegel als Fenster in alternative Realitäten
- Labyrinthe als psychologische Metaphern
- Dunkelheit als Ausdruck innerer Leere
- Monster als Personifikation verdrängter Triebe
Dr. Jekyll und Mr. Hyde zeigen genau das: Die dunkle Seite, die in jedem von uns lauert. Und was ist das anderes als moderne Urban Fantasy mit viktorianischem Flair?
Von der Schauerromantik zur Dark Fantasy
Die düsteren Tropen der Gothic Fiction wurden nicht vergessen. Im Gegenteil: Sie prägen Dark Fantasy bis heute.
- Die Idee des „anderen Ichs“ lebt in unzähligen Romanen fort (z. B. The Witcher, Sandman, The Broken Empire).
- Der Konflikt zwischen Rationalität und Magie bleibt zentral.
- Moderne Serien wie Penny Dreadful zitieren Gothic-Stoffe direkt.
- Autoren wie Neil Gaiman und Caitlín R. Kiernan führen das Erbe explizit fort.
Ohne die viktorianischen Wurzeln gäbe es keine Lovecraft’schen Kulte, keine Vampir-Epen à la Interview mit einem Vampir – und auch kein modernes Verständnis vom Bösen als innerem Zustand.
Fazit: Der Albtraum als Ursprung
Die Fantasy des 19. Jahrhunderts war keine Flucht vor der Welt – sie war deren Verdrehung. Ein Spiegelkabinett aus Ängsten, Tabus und Nachtgedanken.
Wenn wir heute dunkle Drachen bekämpfen oder Schattenreiche durchqueren, dann auch wegen einer Frau, die vor über 200 Jahren das Monster in sich selbst beschrieb – und damit eine ganz neue Tür zur Fantastik aufstieß.
Gothic Fiction ist nicht nur das dunkle Herz der Fantasy – sie ist deren Spiegelbild bei Kerzenlicht. Und vielleicht auch kein Schwert im Stein.
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