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Maschinen und Magie – Wie das 19. Jahrhundert die Fantasy industrialisierte

Fantasy History (4): Maschinen und Magie - Wie das 19. Jahrhundert die Fantasy industrialisierte

Der Handwerker der Fantasie

William Morris war Textildesigner, Sozialist, Buchdrucker, Maler, Schriftsteller und ungefähr der einzige Mensch, der gleichzeitig gegen Industrialisierung wetterte und fantastische Gegenwelten erfand, die später Tolkien beeinflussen sollten.

Sein Werk The Well at the World’s End (1896) ist – wenn man es heute liest – eine seltsame Mischung aus Ritterroman, Pilgerfahrt und Weltfluchtliteratur. Die Sprache ist archaisch, die Handlung episodisch, die Wirkung: Pionierarbeit für moderne Fantasy.

Morris wollte zurück in eine Zeit vor der Maschine. Und dabei erfand er Fantasyliteratur, die ohne die Maschinenwelt gar nicht gedruckt worden wäre. Ironie? Nein: Struktur. Gerade weil er sich gegen das Neue stellte, wurde er zum Wegbereiter für ein Genre, das von der Massenveröffentlichung lebt.


Technik trifft Traum

Das 19. Jahrhundert ist die Zeit der magischen Mechanik. Hier entstehen nicht nur Romane, sondern auch neue Denkmodelle, wie Technik und Mythos miteinander kollidieren können.

  • Frankenstein (Mary Shelley): Die moderne Prometheus-Story. Wissenschaft wird zur Schöpfungskraft – mit moralischer Katastrophe im Gepäck.
  • The Time Machine (H. G. Wells): Zeitreisen als neue Form des Wunderbaren, erzählt mit Pioniergeist und pessimistischer Vision.
  • Flatland (E. A. Abbott): Fantastik durch mathematische Konzepte – absurd, visionär, zutiefst gesellschaftskritisch.

Fantasy beginnt, mit Technologie zu spielen, nicht gegen sie zu schießen. Die Linie zwischen Magie und Mechanik wird porös. Was einst in alchemistischen Laboren gärte, findet nun Platz in Laboren, Eisenbahnschuppen und unter Londoner Gaslaternen.

Das Ergebnis: neue Untergattungen wie Science Fantasy, Gaslamp Fantasy, Steamfantasy und später Steampunk – ästhetisch wie ideell ein Schmelztiegel aus Zahnrädern, Zauberei und sozialer Sprengkraft.


Im 19. Jahrhundert geschieht eine Revolution, die für Fantasy wichtiger ist als jedes Schwert: die Demokratisierung des Buches.

  • Romane werden billiger.
  • Serienformate entstehen (z. B. Penny Dreadfuls).
  • Magazine bringen Kurzgeschichten unters Volk.
  • Lesekreise, Leihbibliotheken und Buchclubs entstehen.

Die Folge: Fantasy wird veröffentlicht, konsumiert, diskutiert.

Das Publikum ist nicht mehr nur akademisch oder adlig, sondern städtisch, neugierig und bereit, zwischen Schichtarbeit und Sonntagsandacht ein Kapitel voller Drachen, Visionen oder fremder Welten zu verschlingen.

Und dann kommen sie alle:

  • George MacDonald (Phantastes, Lilith), der C.S. Lewis‘ geistiger Ziehvater wurde.
  • Lord Dunsany (The Gods of Pegāna), der erste Weltenschöpfer mit System.
  • E. R. Eddison (The Worm Ouroboros), ein Barockstilist mit Hang zum Gigantismus.

Und schließlich: Tolkien, der dieses Erbe nicht nur beerbte, sondern kanonisierte.


Von der Flucht zur Form

Fantasy im 19. Jahrhundert ist oft eine Reaktion auf Realität:

  • auf Kapitalismus
  • auf Verstädterung
  • auf soziale Verwerfungen

Die alten Mythen tauchen wieder auf, aber in neuen Kleidern.

Nicht selten ist Fantasy eine literarische Gegenbewegung: Sie schafft Räume jenseits von Rauch und Schornstein, in denen nicht Fortschritt, sondern Verwandlung das Ziel ist.

Sie bietet eine Sprache für das Ungewisse – jenseits von Dogma, Markt und Telegraphendraht.

Fantasy ist hier nicht nur Fluchtliteratur, sondern Formfindung für das Unaussprechliche. Sie gibt Unsicherheiten, Hoffnungen und Ängsten eine neue Haut.


Fazit:

Die Fantasy des 19. Jahrhunderts ist keine bloße Verlängerung der Vergangenheit. Sie ist eine literarische Maschine: gebaut mit dem Werkzeug der Moderne, aber angetrieben vom Wunsch nach dem Wunderbaren.

Ohne diese Epoche gäbe es keine Buchreihe, keinen Verlag, kein Regal voller Drachenromane. Und vielleicht auch kein Schwert im Stein.


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