Briefe aus den Zwischenreichen

📜 Wir atmen flacher„Ein Brief mit bildungsbedingtem Überhang“

Ein Brief von Thomas Mann aus den Zwischenreichen

Wir fanden ihn zwischen einem nicht abgeschickten Nietzsche-Kommentar und einem dreifach gefalteten Manuskript, das nur aus Adjektiven bestand.

Der Umschlag: elfenbeinfarben.
Die Handschrift: exzentrisch elegant.
Das Parfüm: kritisch.


✉️ Der Brief

Sehr geehrte Redaktion,

es dürfte Ihnen, die Sie sich, wie ich annehme, dem literarischen Genre der sogenannten „Phantastik“ widmen, nicht entgangen sein, dass der Zustand ebenjener erzählerischen Disziplin – ich vermeide mit Bedacht den Begriff Gattung, da dieser in sich bereits eine systemische Einengung suggeriert, die mir im Kontext der gegenwärtigen Formensprache als unangemessen erscheint – bedauerlicherweise einem fortschreitenden, ja beinahe metastasierenden Zustand sprachlicher Verwahrlosung anheimgefallen ist.

Die Elfen, so höre ich, schweben.
Sie kämpfen.
Sie flüstern.
Sie lieben.
Doch sie denken nicht.
Und schlimmer: Sie werden nicht gedacht.

Denn der Autor, dieses literarisch prekäre Subjekt, das in den meisten Fällen nur ungenügend zwischen Selbstverwirklichung und Weltflucht unterscheidet, lässt sie sein, statt sie – wie es sich gehörte – zu erdichten.
Ein Unterschied, der, wie ich betonen möchte, nicht nur sprachlich, sondern ontologisch von Bedeutung ist.

In meiner Zeit wurden Zauberer nicht mit leuchtenden Stäben, sondern mit innerem Konflikt beschrieben.
Magie war eine Metapher.
Heute hingegen ist sie eine Plotlösung mit Lichteffekt.

Was einst Allegorie war, ist nun Item.
Was einst Widerspruch war, ist nun Dialogzeile.
Und was einst tragischer Held war, ist nun „der mit dem Drachenschwert“.

Ich bedaure diese Entwicklung nicht nur aus ästhetischem, sondern auch aus hygienischem Interesse.
Denn das Wort hat Gewicht – und es sollte nicht von Drachen getreten werden.

Mit stilistischer Strenge und editorischem Unbehagen,
Thomas Mann
(Autor, Stilist, gelegentlicher Magier der Syntax)


🪶 Kommentar der Redaktion

Wir wollten den Brief auf zwei Seiten kürzen.
Er ist jetzt zwölf – geworden. Und wächst.
Oh Gott: Die Fußnoten bekommen eigene Fußnoten.
Wir veröffentlichen ihn. Solange wir noch können.
Weil er es befohlen hat.

Thomas Mann schrieb uns aus den Zwischenreichen

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