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🎄 Die Herberge von Kaltstein (Eine Weihnachtsgeschichte)
Der Wind kam in Stößen, als hätte er den Auftrag, das Land weiter zu plagen. Er warf Schnee gegen Holz, rüttelte an Türen, pfiff durch Ritzen, als wolle er die Welt daran erinnern, dass sie draußen bei ihm nichts verloren hatte. In der Senke unterhalb des Passes lag Kaltstein, ein Häuflein Häuser, das sich aneinanderdrückte, als wäre Nähe der einzig wahre Zauber.
Am Rand des Dorfes stand die Herberge.
„Die Krone“ hieß sie, obwohl sie eher wie ein müder Hut aussah. Ein schiefer Giebel, ein Schild, das bei jedem Windstoß klapperte, und ein Wirt, der so knurrig und abweisend wirkte wie sein nicht vorhandener Humor.
In dieser Nacht war die Krone voll.
Voll mit Männern, die ihr Bier wie eine Beute festhielten. Voll mit Reisenden, die so taten, als hätten sie die Kälte im Griff. Voll mit Stimmen, die Wärme suchten und deshalb lauter wurden.
Und voll mit… einem Ork.

Er saß allein, wie Orks das am besten können: breit, dunkel, still. Sein Mantel war aus Fell gemacht und einige der wenig kunstvoll ausgeführten Nähte sahen aus wie schlechte Entscheidungen. Seine Hände lagen auf dem Tisch, als hätten sie vergessen, dass sie auch anderswo sein könnten. Neben seinem Becher stand eine Schüssel mit Eintopf, die er nicht angerührt hatte, weil Hunger und Vorsicht manchmal mit derselben Stimme sprachen.
Der Wirt warf ihm jedes Mal einen Blick zu, wenn er vorbei ging. Nicht offen oder mutig, eher so, wie man das Wetter beobachtet, wenn es vielleicht noch schlimmer werden kann.
„Du machst hier niemanden kaputt, ja?“ knurrte der Wirt irgendwann, als er dem Ork den Krug nachfüllte.
Der Ork hob langsam den Kopf. Seine Augen waren gelb wie altes Glas.
„Wenn ich wollte“, sagte er ruhig, „wäre die Krone schon weg.“
Der Wirt schluckte. Und tat, was Menschen immer tun, wenn sie nicht verlieren wollen: Er tat so, als hätte er gewonnen.
„Na siehste“, brummte er. „Dann bleiben wir Freunde.“
Der Ork sah ihm nach, als er ging. Dann starrte er wieder in den Eintopf, als läge darin eine Antwort verborgen.
Die Tür ging auf.
Nur dieses kurze Aufbäumen der Wärme, wenn die Kälte eintritt und alle kurz merken, wie dünn ihre Welt eigentlich geworden ist.
Ein Mann trat ein. Groß, aber gebeugt. Schnee hing an seinem Umhang wie ein Fluch. Er hielt die Tür für eine Frau auf, die langsam hinter ihm herkam.
Schwanger.
Man sah es sofort. Nicht aufdringlich, auch nicht pathetisch. Einfach so, wie man einer schweren Wolke den kommenden Regen ansieht: Man weiß, was kommt, und man weiß, dass man es nicht aufhalten kann.
Die Gespräche verstummten nicht ganz, aber sie wurden hörbar vorsichtiger. Augen wanderten. Münder wurden zu Strichen. Eine zerlumpte Frau am Kamin kreuzte die Arme, als könne sie damit die Moral im Raum neu sortieren.
Der Wirt stand schon da, als hätte er auf genau diesen Moment gewartet, um etwas Falsches zu tun.
„Wir haben nichts“, sagte er schnell. „Alles voll. Wirklich alles. Nicht mal der Boden. Nicht mal… also…“
„Es ist kalt“, sagte der Mann. Mehr nicht. Kein Betteln und kein Theater. Einfach nur ein Fakt.
Der Wirt zuckte mit den Schultern. „Kalt ist es für alle.“
Die Frau atmete einmal tief durch, und es klang, als würde sie nicht ihre Zähne zusammenbeißen, sondern ihre Worte.
„Wir brauchen nur…“, begann sie.
„Hier gibt es nichts“, unterbrach er sie barsch. Er schaute schon weg, als wäre das Thema erledigt.
Es war dieses Wegschauen, das den Ork traf.
Nicht weil Orks echte Experten für Mitleid wären, sondern weil sie Hässlichkeit erkennen, wenn sie keine Hauer hat.
Der Ork stand auf.
Das Geräusch seines Stuhls war wie ein kleines Erdbeben. Köpfe drehten sich. Hände wanderten zu Messern, die nicht helfen würden. Ein Junge zog die Beine unter den Tisch, als könne er sich unsichtbar machen.
Der Ork ging langsam zur Theke. Der Wirt wurde blasser, als würde ihm die Luft abgezogen.
„Du“, sagte der Ork.
„Ich?“, fiepte der Wirt.
„Deine Ställe.“
Der Wirt blinzelte. „Die… die Ställe sind…“
„Stroh“, sagte der Ork. „Dach. Keine Wände, aber Wind hat überall Hände.“
Der Wirt schluckte erneut, diesmal lauter. „Da schläft… Vieh.“
„Dann schläft heute weniger Vieh“, sagte der Ork.
Ein Raunen ging durch den Raum, so zäh wie die schleimige Suppe, die hier oft serviert wurde. Der Wirt hob die Hände, als würde er den Ork beschwichtigen wollen, und doch klang es eher wie ein geschäftlicher Reflex.
„Das ist… nicht… üblich“, brachte er schwach hervor.
Der Ork beugte sich vor. So nah, dass der Wirt den Geruch von Fell, Schnee und Wegstaub in die Nase bekam.
„Ich bin nicht üblich.“
Der Wirt nickte. Schnell. Heftig. Es war kein Einverständnis, es war Überlebenswille.
„Stall ist frei“, sagte er tonlos.
Der Mann mit der Frau sah den Ork an. Sein Blick war müde, aber wach. Er nickte einmal. Dankbarkeit war in diesem Nicken, aber auch etwas anderes, als hätte er verstanden, dass dieser Ork nicht aus Güte handelte, sondern aus einer Art geradem Gesetz.
Sie gingen hinaus. Der Ork folgte ihnen. Der Wirt schlich vorsichtig mit zur Tür, wohl um ihnen unnötigerweise den Weg zu weisen. Oder auch nur um sicherzugehen, dass sie endlich seine Schankstube verließen.

Draußen war die Luft so klar, dass sie weh tat. Sterne standen am Himmel wie frostige Nägel im eiskalten Mantel der Nacht. Der Atem der drei wurde zu kleinen Wolken, die sofort wieder erstarben.
Im Stall roch es nach Heu und Wärme, die schon alt war. Ein Ochse hob den Kopf. Ein Esel scharrte. Das Stroh knisterte wie Papier.
Der Mann breitete eine Decke aus, so ordentlich, als wäre Ordnung ein Gebet. Die Frau setzte sich langsam, stützte die Hand auf den Bauch und schloss für einen Moment die Augen.
Der Ork blieb an der Tür stehen, halb im Wind, halb im Stall, als wüsste er nicht, zu welchem Ort er gehört.
„Warum?“, fragte der Mann nach einer Weile.
Der Ork zuckte mit den Schultern. „Weil dieser Wirt ein Wurm ist.“
Der Mann lächelte kurz, und es sah aus, als hätte er das Lächeln lange nicht benutzt.
„Und… sonst?“
Der Ork sah in die Nacht hinaus. „Weil… wenn ich hart bin, soll ich es wenigstens richtig sein.“
Die Frau öffnete die Augen. Ihr Blick war klar. Kein bisschen Angst.
„Wie heißt du?“, fragte sie.
Der Ork zögerte. Orks gaben selten Namen an Fremde. Namen waren Griffstellen.
„Grum“, sagte er schließlich. Es klang, als hätte er das Wort aus einem Stein gekratzt.
„Grum“, sagte die Frau, als wolle sie sich den Namen merken, ohne ihn zu besitzen.
Dann kam eine Wehe.
Sie schrie nicht laut und nicht dramatisch. Aber dieser Moment ließ die Luft im Stall kurz stillstehen, als hätte selbst der Wind Respekt.
Der Mann kniete sich zu ihr. Er flüsterte etwas, das der Ork nicht verstand, aber das sich anfühlte wie Wärme.
Grum stand da. Seine Hände ballten sich. Ein Ork kann Schlachten. Ein Ork kann Blut. Ein Ork kann sterbende Schreie.
Aber eine Geburt?
Das war eine andere Art von Gewalt. Eine, die nicht zerstört, sondern neues Leben baut.
Draußen flammte plötzlich ein Licht auf.
Grum trat vor die Tür und blinzelte. Am Himmel stand ein Stern, so hell, dass er die scharfen Kanten des Dorfes nachzeichnete. Er war nicht einfach nur da. Er schien näher zu sein, als wären Himmel und Erde für einen Moment geschrumpft.
Dann hörte er Stimmen.
Nicht Menschenstimmen.
Rau. Tiefer. In der Ferne.
Grum spannte sich an. Seine Hand wanderte instinktiv zu dem Messer an seinem Gürtel.
Aus der Dunkelheit kamen Gestalten.
Drei Orks.
Nicht von seinem Stamm. Er kannte ihre Farben nicht, ihre Narben nicht, ihren Gang nicht. Sie trugen keine Fackeln, aber ihre Augen glommen im Licht des Sterns, als trügen sie ihn in sich.
Der vorderste Ork hob die Hand.
„Grum“, sagte er.
Grum erstarrte. „Woher kennst du meinen Namen?“
Der Ork grinste. „Du bist der, der Menschen nicht frisst.“
Das war eine Beleidigung in Ork-Sprache. Oder ein Titel. Oft war es dasselbe.
„Was wollt ihr?“, knurrte Grum.
Der Ork deutete nach oben. „Der Stern. Er ruft. Wir folgen.“
Grum spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. Nicht Angst. Eher… etwas wie Pflichtgefühl?
„Geht weg“, sagte er.
Die Orks lachten leise.
„Du hältst uns auf?“, fragte der zweite.
Grum zog das Messer. Es war nicht groß. Aber es war ehrlicher, alter Stahl.
„Ja.“
Die drei Orks traten näher, und für einen Moment sah die Nacht so aus, wie sie immer aussah: kalt, brutal, vorhersehbar.
Dann, aus dem Stall, ein Laut.
Ein erster Schrei, klein und zerbrechlich, aber so scharf, dass er die ganz Welt aufritzte.
Die drei Orks hielten inne.
Der vorderste Ork blinzelte. Sein Grinsen war verschwunden.
„Was… war das?“
Grum antwortete nicht sofort. Er starrte auf seine Hände, als hätte er vergessen, dass sie Waffen hielten.
„Ein Kind“, sagte er schließlich.
Der Stern am Himmel flackerte nicht. Er stand nur da, unverschämt hell, als würde er sagen: Hier. Genau hier.
Die Orks schauten sich an. Unsicher. Orks kannten viele Gründe, sich zu sammeln. Beute. Krieg. Rache.
Aber ein Kind?
Der dritte Ork räusperte sich, als wäre ihm das peinlich. „Ist… das… wichtig?“
Grum spürte, wie etwas in ihm knirschte und sich neu sortierte.
„Ja“, sagte er.
Der vorderste Ork sah an Grum vorbei in den Stall, als könnte er durch Holz sehen.
„Ein Menschenkind.“
Grum nickte.
„Warum sollen wir…“, begann der zweite Ork.
Grum hob die Hand. Kein Drohen. Eher ein Stopp, als hätte er plötzlich eine Art ganz neuer Autorität entdeckt, die nicht aus Gewalt kam.
„Ihr wollt dem Stern folgen?“, fragte er.
Die drei Orks nickten langsam, als wäre es das Einzige, was sie sicher wussten.
„Dann…“, sagte Grum und atmete aus, „macht was, was ihr noch nie gemacht habt.“
Die Orks starrten ihn an.
„Gebt“, sagte Grum.
Stille.
„Was?“, fragte der dritte.
Grum sah auf ihre Gürtel, ihre Taschen, ihre Hände. Er dachte an Ork-Tradition, an diese lächerlichen Beutestücke, die Krieger sich geben, um nicht zuzugeben, dass sie etwas fühlen.
„Was ihr habt“, sagte er. „Und wenn es nur Tand ist.“
Der vorderste Ork riss die Augen auf. Dann lachte er kurz, ein einzelner Laut, der nicht spöttisch war, sondern verwirrt klang.
„Wir sind keine Priester“, knurrte er.
„Ich auch nicht“, sagte Grum.
Im Stall bewegte sich etwas. Ein sanftes, müdes Lachen der Frau. Der Mann flüsterte wieder. Der Ochse schnaubte.
Und plötzlich war es nicht mehr möglich, so zu tun, als wäre das alles nichts.
Der zweite Ork zog langsam etwas aus seiner Tasche. Ein Stück getrocknetes Fleisch. Er sah es an, als hätte er es gerade zum ersten Mal als „Essen“ erkannt und nicht als „Vorrat“.
„Das ist… gut“, murmelte er, fast beleidigt.
Der dritte Ork löste zwei Metallringe von seinen großen, knotigen Fingern. Billig. Aber sauber. „Hab ich geklaut“, sagte er schnell, als müsse er es entschärfen.
Der vorderste Ork zögerte am längsten. Dann griff er an seinen Hals und zog eine Kette hervor. Daran hing ein kleiner, schwarzer Stein, glatt geschliffen.
„Von meiner Mutter“, sagte er. Und klang, als würde er es bereuen, es gesagt zu haben.
Grum nickte. „Dann geht rein.“
Sie gingen.
Vier Orks in einen Stall, in dem ein Kind geboren wurde.
Die Welt schien kurz den Atem anzuhalten, wohl weil sie nicht wusste, wie sie mit soetwas umgehen sollte.

Drinnen lag das Kind eingewickelt in eine Decke. Klein. Rotgesichtig. Lebendig. Sein Schrei war jetzt leiser, eher ein Beschweren über die Zumutung, überhaupt inmitten von all dem ein Leben beginnen zu müssen.
Die Frau sah die Orks an. Nicht ängstlich. Eher neugierig, als hätte sie immer schon gewusst, dass Menschen viele Geschichten erzählen, aber die Wahrheit oft ganz anders aussah.
Der Mann stand auf, müde und wach zugleich.
Grum trat als Erster vor. Seine Hände zitterten leicht.
Er legte sein Messer auf den Boden.
Dann nahm er die Schüssel Eintopf, die er aus der Herberge mitgenommen hatte, ohne es zu merken und stellte sie vorsichtig hin, als wäre sie eine Opfergabe.
Die anderen Orks traten vor und legten ihre Dinge dazu. Das Fleisch. Die Ringe. Den Stein.
Kein Prunk. Keine Gaben für Könige. Keine goldenen Kisten.
Nur Orks, die zum ersten Mal in ihrem Leben verstanden, dass man etwas geben kann, ohne dazu gezwungen zu werden.
Das Kind öffnete die Augen.
Grum war sich sicher, dass es ihn ansah.
Nicht weil Kinder Orks erkennen, sondern weil es ein Moment wahren Erkennens war.
Draußen im Dorf bellte ein Hund. In der Ferne knarrte Holz. Der Wind rüttelte weiter an der Welt, aber irgendwie klang er weniger wütend.
Der Stern am Himmel stand noch immer da.
Und als Grum später wieder hinausging, um die Nacht zu bewachen, bemerkte er etwas, das ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte:
Der Stern war nicht mehr nur am Himmel.
Ein kleines Licht schien aus dem Stall, warm und ruhig, als hätte jemand die Kälte im Inneren der Welt aufgeschraubt und etwas Helles hineingesetzt.
Grum hob den Kopf, zog den Mantel enger und setzte sich in den Schnee.
Die anderen Orks standen neben ihm. Still. Wach.
„Was ist das?“, flüsterte der dritte Ork, als würde er Angst haben, das Falsche zu sagen.
Grum dachte nach. Lange.
Dann sagte er, als wäre es das Einfachste auf der Welt:
„Ein König.“
Die Orks schnaubten. Einer lachte leise.
„Ein Menschenkönig?“
Grum schüttelte den Kopf. „Weiß ich nicht.“
Er sah in den Himmel, in den Schnee, in das Licht.
„Aber wenn er so anfängt“, murmelte er, „dann wird er nicht so enden wie wir.“
Ein Satz, nicht laut, nicht mit Trommeln unterlegt, sondern einer, der wie ein Stein langsam ins Wasser fällt und sanfte Kreise zieht:
Ein Ork, der über Hoffnung sprach, ohne je gelernt zu haben, was dieses Wort bedeutet.

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