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Weltliteratur meets Fantasy
🏛️ Der Prozess des Grashk (1)
Eine Fantasy-Adaption. Nach Motiven von Franz Kafka. 🤵🏻
Teil 1: Der Morgen der Feststellung

An dem Morgen, an dem man Grashk beschuldigte, roch der Justizturm nach Seife.
Das war selten. Normalerweise hing im unteren Trakt ein feuchter Geruch aus Tinte, kaltem Stein und nasser Wolle. Heute lag über allem etwas Helles in der Luft, als hätte jemand den Flur mit dem guten Seifenschaum aus den oberen Bädern durchgewischt, dort, wo die Elben ihre Gewänder reinigten, die nie wirklich schmutzig aussahen.
Grashk wachte noch vor dem ersten Glockenschlag auf. So wie immer. Er brauchte weder Geläut noch Hahnenschrei. Seit sieben Jahren war er Schreibergehilfe im Justizturm von Aereth, der auf alten Zwergenfundamenten über der Stadt stand wie ein eingekeilter Speer, und nach sieben Jahren wusste jede Faser seines Körpers, wann die erste Liste sortiert sein musste.
Er öffnete die Augen, sah die niedrige Balkendecke über sich und hörte den Turm atmen. Irgendwo rasselten Eimer, ein Wächter lachte leise, die große Treppe knarrte unter einem frühen Schritt. Und von weit oben, aus den höheren Hallen, schwebte das leise Klingen der schwebenden Lichter hinab, die die Elben „Sterne im Dienst“ nannten. Es klang nach Ordnung, nach Routine. Grashk mochte das. Er hatte gelernt, dass Ordnung etwas war, das sich zu lieben lohnte.
Er setzte sich auf, kniff sich kurz in den Oberarm, weil er irgendwo gelesen hatte, dass ordentliche Leute ihren Tag mit einer kleinen Disziplin begannen, und griff nach seiner Weste. Sie hing an dem einzigen Nagel, den man ihm in die Wand schlagen gelassen hatte. Die Weste war elbisch geschnitten, graublau, mit einem gestickten Wappenknopf – eine Waage unter einem schlanken Turm –, der nie ganz so glatt saß wie bei ihren eigentlichen Trägern.
Grashk war ein Ork. Das war schwer zu übersehen. Breite Schultern, graugrüne Haut, vier untere Zähne, die sich immer ein wenig in die Lippe drückten, wenn er nachdachte. Er hatte gelernt, leise zu gehen, die Schultern anzuziehen und beim Lächeln die Zähne zu verbergen. Die Elben nannten das eine beeindruckende Anpassungsleistung. Für Grashk war es der Weg geworden, wie man hier überlebte.
Er stand gerade auf, um seine Stiefel aus der Ecke zu holen, als er merkt, dass er nicht allein war.
Zwei Gestalten standen zwischen seinem Bett und der Tür. Sie hatten es nicht nötig, aufzustehen, weil sie offenbar nie gesessen hatten. Oder jemals geklopft.
Ihre Mäntel waren von einem fahlen Grau, das jede Farbe im Raum verschluckte. Feine, silberne Fäden zogen sich wie Schriftzüge über den Stoff, Formeln der Ordnung in einer elbischen Kanzleihand, die Grashk nicht lesen konnte. Unter den Kapuzen sah er nur helle Haut, helle Haare, helle Augen. Elben, natürlich. Alles andere wäre in diesem Turm fast beunruhigend gewesen.
Er schnappte nach Luft, zeigte einen halb gelungenen Kratzfuß, den er sich bei den Schreibern abgeguckt hatte, und sagte mit knarzender Stimme: „Grashk, Schreibergehilfe dritten Ranges, im Dienste des Turms. Ich bitte um Verzeihung, dass ich Euch nicht habe eintreten hören.“
Der Linke der beiden hob eine Augenbraue. Seine Augen glitten über Grashk, als prüften sie eine Zeile in einer Liste, die nicht ganz zu den anderen passte. „Du warst noch nicht angezogen“, stellte er fest.
„Es ist vor dem ersten Schlag, Herr“, sagte Grashk. „Die Listen schlafen noch.“
Der Rechte sah kurz zu dem kleinen Hocker, auf dem Grashks Schreibzeug ordentlich bereitlag, Feder, Messer, Schwamm. „Offenbar nicht alle“, murmelte er.
Grashk stand jetzt barfuß auf dem Steinboden, die Weste halb übergestreift, und versuchte, nicht nach seinen Stiefeln zu schielen. Durch das schmale Fenster hinter den beiden sah er ein Stück Aereth: die gestuften Dächer der Unterstadt, einen fernen, dunklen Hain, in dem die alten Gerichts-Eiben standen, und höher oben die hellen Bögen der elbischen Brücken, unter denen morgens schon die ersten Lichtkugeln schwebten.
„Kann ich Euch helfen? Soll ich jemanden holen?“ fragte er.
„Wir sind bereits hier“, sagte der Linke. Seine Stimme war glatt wie poliertes Metall. „Im Auftrag des Hohen Gerichts.“
Das Wort sank in die Kammer wie ein schwerer Stein in öligem Wasser.
Grashk hatte in all den Jahren im Turm viele Worte sortiert: Beschwerde, Begnadigung, Bannspruch. Das Wort Gericht stand immer oben. Es hatte eigene Regale, eigene Siegel, eigene Treppen, die nur nach oben führten. Es war das Zentrum, um das alles kroch.
„Es muss ein Irrtum vorliegen“, sagte er automatisch. Dann biss er sich auf die Zunge. Irrtum war kein Wort, das Elben mochten.
Der Rechte trat einen Schritt näher. Er roch nach kalter Luft und Seife, und irgendetwas an seinem Mantel trug den trockenen Duft von Eibenholz. „Grashk, Sohn des Gorn“, sagte er. „Es ist festgestellt worden, dass du angeklagt bist.“
Grashk blinzelte. „Festgestellt worden“, wiederholte er langsam. „Von wem?“
„Vom Gericht“, sagte der Linke. „Es gibt keine Anklage ohne Feststellung.“
„Und ohne Schuld keine Feststellung“, ergänzte der Rechte. „Sonst wären wir nicht hier.“
Grashk versuchte, die Sätze zu sortieren. Er wusste, dass man nichts sagen sollte, bevor man nicht wusste, in welcher Reihe man gerade stand.
„Wegen welcher Tat?“ fragte er schließlich. „Nach welchem Gesetz?“
Der Linke neigte den Kopf leicht zur Seite, als würde er eine Fliege betrachten. „Das ist nicht unsere Zuständigkeit.“
„Unsere Aufgabe ist nur, dir mitzuteilen, dass du angeklagt bist“, sagte der Rechte. „Damit das Verfahren nicht ohne dich beginnt.“
„Es hat also noch nicht begonnen?“ fragte Grashk hoffnungsvoll.
„Der Zustand der Anklage ist Beginn genug“, sagte der Linke.
Der Ork merkte, wie ihm die Worte wie nasse Steine in den Händen lagen. „Ich habe doch… ich arbeite hier. Ich sortiere Eure Rollen. Ich kenne die Formblätter. Es gibt einen Antrag, einen Siegelbeamten, einen Termin. Es gibt Zeugen. Ich habe nie…“
„Du brauchst das Verfahren nicht zu erklären“, unterbrach ihn der Rechte. „Wir arbeiten hier.“
„Ihr seid hier als Gegenstand des Verfahrens“, fügte der Linke hinzu. „Nicht als Beteiligter.“
Grashk schluckte. „Ich dachte, das sei dasselbe.“
Der Rechte lächelte höflich. „Das dachten viele deiner Art.“
Es war kein grober Satz, keine offene Beleidigung. Es war nur dieses kleine „deiner Art“, das sich wie ein Splitter in Grashks Hals setzte.
Er richtete sich etwas auf. „Ich verlange die Schrift zu sehen. Die Anklage muss auf Pergament vorliegen, mit Siegel. Das ist Vorschrift für jeden Bürger.“

Der Linke griff in seinen Mantel und holte tatsächlich eine kleine, sauber gerollte Schriftrolle hervor. Das Wachs am Siegel war tiefgrün, darin geprägt die Waage unter dem Turm. Grashk hätte die Form im Schlaf erkannt, er hatte sie oft genug sortiert. Für einen Augenblick glaubte er, die Waage bewege sich minimal, als die Rolle seine Hand berührte, als prüfe das Siegel, ob es beim Richtigen gelandet war.
„Bitteschön“, sagte der Elb. „Im Rahmen unserer Höflichkeit.“
Grashk nahm die Rolle mit beiden Händen. Seine Finger fühlten sich plötzlich klobig an. Er brach das Siegel vorsichtig. Es tat ihm fast körperlich weh, die glatte Oberfläche zu zerstören.
Im Inneren stand nur ein einziger Satz, in klarer, feiner Schrift:
Grashk, Sohn des Gorn, ist angeklagt vor dem Hohen Gericht von Aereth.
Mehr nicht. Kein Datum. Kein Tatbestand. Kein Ort. Kein Verweis auf eine Aktennummer, kein Absender. Nur dieser Satz, nackt wie ein Schlag ins Gesicht. Die Tinte wirkte frischer, als sie sein durfte, als wäre sie erst im Moment des Lesens endgültig fest geworden.
„Das ist keine Anklage“, brachte er hervor. „Das ist nur eine Behauptung.“
„Behauptungen von dieser Art sind bereits Anklagen“, sagte der Rechte.
„Sonst hätte sie ja wohl niemand geschrieben“, ergänzte der Linke.
Grashk sah von dem Pergament zu den beiden und zurück. Er war gut im Lesen, besser als die meisten aus seinem alten Lager. Er wusste, wie präzise die Elben schreiben konnten, wenn sie wollten. Hier hatten sie nichts präzisiert. Vielleicht brauchten sie es nicht.
„Wann soll ich vor dem Gericht erscheinen?“ fragte er. „Wo ist der Termin?“
Der Linke sah kurz zu seinem Gefährten, als hätten sie diese Frage erwartet wie einen bekannten Vers.
„Du bist bereits im Verfahren“, sagte der Rechte. „Der Termin wird dir mitgeteilt, sobald er stattgefunden hat.“
Grashk starrte ihn an. „Wie… soll ich denn…“
„Du wirst von der Nachricht erfahren“, sagte der Linke. „Oder von ihren Folgen.“
„Es ist wichtig, dass du verfügbar bleibst“, ergänzte der Rechte. „Deine Kammer im Turm ist dafür geeignet. Es wäre unerwünscht, wenn du den Bezirk wechselst, bevor das Gericht eine Gelegenheit hatte, dich zu hören.“
„Also darf ich nicht weg“, sagte Grashk.
„Du sollst dich nicht entziehen“, korrigierte der Linke. „Das ist etwas anderes als das, was du sagst.“
„Es wäre bedenklich für das Verfahren, wenn du plötzlich unauffindbar wärst“, sagte der Rechte. „Wir würden das als mangelnde Bereitschaft zur Mitwirkung vermerken.“
Grashk spürte, wie sein Kopf dumpf wurde. „Ich bin doch jeden Tag hier“, sagte er. „Ich war nie anderswo.“
„Das ist ein guter Anfang“, sagte der Linke. „Fahr fort damit.“
Die beiden machten keine Anstalten zu gehen. Sie standen einfach da, als warteten sie auf etwas, das er noch sagen oder tun musste.
„Gibt es noch etwas, das ich wissen muss?“ fragte Grashk, weil Schweigen ihm immer gefährlicher vorkam als eine schlechte Frage.
Der Rechte nickte. „Es wurde ein vorbereitender Ort für dich vorgesehen.“
Grashk fühlte einen kurzen Stich von Erleichterung. „Ein Gerichtssaal?“
„Die Bezeichnung ist dir nicht von Nutzen“, sagte der Linke. „Es ist ein Raum, in dem sich Aspekte des Verfahrens sammeln.“
„Du wirst dich dort einfinden“, ergänzte der Rechte. „Zur rechten Zeit.“
„Wann ist die rechte Zeit?“ fragte Grashk.
Der Linke sah zum Fenster. Draußen schwebte gerade eine der Lichtkugeln an der Turmwand vorbei und zog einen feinen Schimmer über den Stein. „Wenn die Glocke der siebenten Stunde schlägt, an einem Tag, an dem sie dafür bestimmt ist.“
„Und wo?“ Grashk merkte, dass seine Stimme höher wurde. „Ich kann nicht an einem Raum vorbeigehen, nur weil er dazu bestimmt sein könnte.“
„Du findest ihn im Dachgeschoss der Ostflügeltaverne“, sagte der Rechte schließlich. „Über der Kantine für die niederen Bediensteten. Eine schmale Treppe hinter der Vorratskammer der Küche. Die Tür wird offen stehen, wenn es angemessen ist.“
Grashk wusste nicht, was ihn mehr irritierte. Dass das Gericht einen Dachboden über einer Taverne als Teil seiner Hallen betrachtete oder dass jemand die Kantine der niederen Bediensteten „angemessen“ nannte.
„Und wenn die Tür nicht offen steht?“ fragte er.
„Dann ist sie noch nicht für dich bestimmt gewesen“, sagte der Linke.
Grashk atmete einmal tief durch, so leise, wie er konnte. „Wird mir jemand dort erklären, worum es geht?“
„Du bist angeklagt“, sagte der Rechte, so als hätte er das Gefühl, alles weitere sei Spitzfindigkeit. „Alles andere wäre nur Vorrede.“
Damit drehten sie sich um. Es war keine dramatische Bewegung. Sie gingen einfach, als hätten sie eine Lieferung abgestellt. Einer öffnete die Tür, ohne auf den Riegel zu achten. Grashk war sich sicher, dass er ihn gestern geschlossen hatte. Vielleicht hatten sie ihn nie gebraucht.
„Ihr habt meinen Namen nie falsch geschrieben“, sagte er plötzlich, ohne recht zu wissen, warum.
Der Linke hielt kurz inne. „Du bist seit Jahren im Turm, Grashk Sohn des Gorn“, sagte er. „Es ist nicht nötig, dich zu verwechseln.“
Dann verschwanden sie im Flur.
Die Tür fiel zu.
Grashk stand in seiner Kammer, barfuß, halb angezogen, das Dokument in der Hand. Die Kerze war heruntergebrannt und kurz davor auszugehen, aber das Licht reichte noch, um den einen Satz immer wieder zu lesen, als könnte er sich verstecken, wenn er nur die richtige Stelle fände.
Grashk, Sohn des Gorn, ist angeklagt vor dem Hohen Gericht von Aereth.
Draußen im Turm begann die Glocke, die erste Stunde des Tages zu schlagen. Unten würden die Wächter den Schlüsselbund zählen, die ersten Listen würden auf die Schreibpulte gelegt werden. Jemand in der Küche fluchte laut, weil ihm ein Brotlaib verbrannt war. Und irgendwo ganz oben im Turm sangen für einen Atemzug die schwebenden Lichter auf eine Weise, die ihm noch nie aufgefallen war.
Grashk legte das Pergament neben sein Schreibzeug, sehr ordentlich, rechtwinklig zu den anderen Blättern. Es sah aus wie ein Formular, das auf einen Stempel wartete.
Er stellte fest, dass seine Hände zitterten.
Er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, in dieser Stadt kein Problem zu sein. Er hatte seine Stimme gesenkt, seine Klinge abgelegt, seine Zähne niemals gezeigt.
Es sah so aus, als hätte das Gericht genau darin seine Schuld gefunden.
Fortsetzung folgt…

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