In einer verwinkelten Gasse, verborgen irgendwo diesseits der ewigen Dämmerung, stand ein Laden, den niemand suchte und den nur jene fanden, die etwas zu verbergen hatten. Es war kein Ort, der sich in das Gedächtnis brannte – kein leuchtendes Schild, keine knarrende Tür, kein Duft nach altem Holz oder exotischen Gewürzen. Nur eine Schwelle aus Schatten, die sich auftat wie ein stilles Versprechen.

Der Besitzer war ein Dämon. Er nannte sich Azrafil. Doch anders als seine Artgenossen, die mit Flammen und Verdammnis warben, handelte er nicht mit Blut, Seelen oder höllischen Pakten. Sein Geschäft war ein anderes: Er tauschte Geheimnisse gegen Gefallen.

Doch nicht irgendwelche Geheimnisse – keine hohlen Tratschgeschichten oder Sünden aus zweiter Hand. Azrafil sammelte jene Bekenntnisse, die tief in den Herzen ihrer Träger verwahrt lagen, wie verborgene Glut unter Asche. Unerwiderte Liebe. Schuld, die nie gesühnt wurde. Sehnsüchte, für die es keinen Namen gab. Er hörte zu, er bot Trost, und manchmal auch Hilfe – nicht aus Mitleid, sondern aus einer eigentümlichen Faszination für das Menschliche.

Denn obwohl er aus einer Sphäre stammte, in der Emotionen bloß Treibstoff waren, empfand er über die Jahre so etwas wie Respekt. Vielleicht sogar Zuneigung. Die Menschheit, so voller Widersprüche, so unfassbar fehlerhaft, hatte etwas, das er nicht kannte: die Fähigkeit, an Bedeutung zu glauben, selbst im Angesicht der Sinnlosigkeit. Und genau das, diese unbeirrbare Hoffnung, begann er zu bewundern.

Jahrzehnte vergingen. Jahrhunderte vielleicht. Dann kam der Mann.

Er trat ein, ohne zu zögern, so selbstverständlich, als hätte er gewusst, dass dieser Ort auf ihn wartete. Sein Blick war ruhig, seine Schritte lautlos. Doch als Azrafil in seine Augen sah, erkannte er etwas, das ihn innehalten ließ: eine Dunkelheit, die nicht lärmte, sondern lauerte – alt, tief, unerbittlich.

„Ich habe ein Geheimnis“, sagte der Mann.

Azrafil nickte langsam. „Und einen Wunsch, nehme ich an.“

Der Mann lächelte beinahe. „Ich wünsche mir die Macht, diese Welt zu beenden.“

Der Dämon schwieg. Er suchte nach einem Anzeichen für Täuschung, nach der typischen Nervosität, dem Wunsch nach Bedeutung hinter großspurigen Worten. Doch da war nichts. Kein Zweifel. Keine Unsicherheit. Nur der feste Wille, etwas zu beenden – endgültig, unumkehrbar.

Azrafil wusste, dass der Handel damit begonnen hatte. Und er wusste ebenso, dass er – gemäß den Regeln seines Geschäfts – nun abwägen musste, ob der Preis des Geheimnisses dem Wunsch entsprach. Er war an Verträge gebunden, nicht aus Moral, sondern aus metaphysischem Zwang. Ein Dämon, der sein Wort bricht, verliert nicht nur seine Macht – er verliert sich selbst. Er wird zu Asche im innersten Kreis, verstoßen von denen, die ihn einst entsandten.

Und doch stand er nun an einem Scheideweg.

Er erinnerte sich an die Stimmen derer, die ihm ihre Geheimnisse anvertraut hatten. An ein Kind, das im Flüsterton gestanden hatte, seinen besten Freund erfunden zu haben. An einen alten Soldaten, der weinte, als er von einem Moment der Schwäche sprach. An eine Frau, die sich fürchtete, dass niemand sie je wirklich sehen würde. All diese Menschen, mit all ihrer Zerbrechlichkeit – und all ihrer Stärke.

Azrafil schloss die Augen.

Als er sie wieder öffnete, lag ein stilles Leuchten in seinem Blick.

„Dein Wunsch“, sagte er leise, „wird nicht erfüllt.“

Der Mann verharrte. Sein Lächeln verlosch. „Dann wirst du fallen“, entgegnete er, ohne Zorn, aber mit der Kälte eines unausweichlichen Urteils.

„Vielleicht“, sagte Azrafil. „Aber ich habe lange genug unter den Sternen gewandelt, um zu wissen, dass manche Dinge das Risiko wert sind. Und die Menschheit – mit all ihrer Schuld und ihren Fehlern – ist eines dieser Dinge.“

Er hob seine Hand. Nicht um zu drohen. Nicht um zu verletzen. Sondern um zu wirken.

Eine Welle aus arkaner Energie erfüllte den Raum – uralt, machtvoll und jenseits von Gut und Böse. Doch Azrafil nutzte sie nicht zur Strafe. Er webte ein Siegel – ein Gewebe aus Erinnerung, Einsicht und Grenzen. Es legte sich um den Mann, nicht als Kette, sondern als Spiegel. Es würde ihn daran hindern, das zu tun, was er zu wollen glaubte. Nicht mit Gewalt – sondern mit Erkenntnis.

„Du wirst leben“, sagte der Dämon. „Und du wirst dich erinnern. Vielleicht wirst du eines Tages verstehen, was du heute beinahe zerstört hast.“

Der Mann antwortete nicht. Er ging.

Der Laden wurde still. Die Schatten legten sich wieder auf die Regale, und Azrafil trat an den Tresen zurück, wo noch immer ein altes Buch lag, in dem keine Namen standen – nur Wahrheiten, in feiner Handschrift.

Er wusste, dass er den Kodex gebrochen hatte. Vielleicht würde er früher oder später bezahlen. Vielleicht war seine Zeit vorbei.

Aber inmitten der Stille wusste er auch eines:

Dass er heute einen Entschluss gefasst hatte, der nicht nur Dämonen etwas lehrte, sondern vielleicht auch die Welt.

Denn das wahre Geheimnis, das er in all den Jahren gelernt hatte, war nicht der Inhalt der Geständnisse. Es war, dass Menschen – trotz allem – immer wieder aufstehen. Dass sie träumen, obwohl sie wissen, wie es endet. Und dass sie lieben, obwohl es sie zerreißt.

Und für diesen Trotz, diesen Funken mitten in der Dunkelheit, war es wert, alles zu riskieren.

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