Fantasy History (1): Fantasy ist kein Kinderkram

Fantasy: Eine unglaubliche Erfolgsgeschichte und trotzdem oft belächelt

Wer auf die Verkaufszahlen blickt, kann kaum glauben, dass Fantasy je als Nischengenre galt. Der Herr der Ringe, Harry Potter, Game of Thrones – sie alle sind Synonyme für globale Erfolge. Und dennoch – oder eben gerade deswegen – zögern viele Kritiker, Fantasy als ernstzunehmende Literatur zu betrachten.

Der Begriff „Infantilisierung“ taucht immer wieder auf: Fantasy wird als Zeichen gesellschaftlicher Unreife gesehen, als Eskapismus für eine Welt, die vor der Wirklichkeit die Augen verschließt. Dieses Vorurteil hat tiefe Wurzeln – und wenig mit der tatsächlichen Vielfalt und Komplexität des Genres zu tun.

Was steckt hinter der „Infantilisierungs“-Debatte?

Fantasy erlaubt Dinge, die andere Literaturgattungen oft vermeiden: Magie, alternative Realitäten, mythische Wesen. Das Unmögliche wird möglich. Gerade dieser Aspekt – das bewusste Überschreiten von Grenzen der bekannten Welt – wird von vielen als „unernst“ abgestempelt.

Dabei hat Fantasy über Jahrhunderte hinweg zentrale Fragen der Menschheit behandelt: Macht, Moral, Freiheit, Identität. In einer Welt voller Drachen, Zauberer und verlorener Königreiche werden gesellschaftliche Konflikte oft schärfer und universeller sichtbar als in realistischer Literatur.

Fantasy schafft Räume für Utopien – und für Dystopien. Sie erlaubt Experimente mit Gesellschaftsformen, Ethik und Geschichte. Sie konfrontiert Leser mit Fragen, die im „realistischen“ Rahmen tabu wären.

Literaturkritik und das Problem der Schubladen

Ein weiteres Problem liegt tief in der Literaturkritik verwurzelt: die starre Trennung zwischen sogenannter „hoher“ und „niedriger“ Literatur. Fantasy – ebenso wie Science Fiction und Horror – wird oft pauschal der Unterhaltungsliteratur zugeordnet, abgewertet als Eskapismus, als Träumerei ohne gesellschaftliche Relevanz.

Die unausgesprochene Regel lautet: „Echte“ Literatur muss realistisch sein, ernst, möglichst deprimierend und möglichst unmagisch.
Alles andere, so suggerieren viele Feuilletons, sei bestenfalls Kindheitserinnerung, schlimmstenfalls Eskapismus für Leseschwache.

Doch diese Sichtweise hält einer ernsthaften Prüfung längst nicht mehr stand.

Wer Earthsea von Ursula K. Le Guin gelesen hat, erkennt eine vielschichtige Meditation über Macht, Verantwortung und Identität. Wer His Dark Materials von Philip Pullman kennt, weiß um die kluge Auseinandersetzung mit Religion, Philosophie und freiem Willen. Die Bücherdiebin von Markus Zusak zeigt, dass sogar der Tod selbst als Erzähler tiefere Menschlichkeit offenbaren kann als viele zeitgenössische Realismusromane.

Und sie sind nicht allein:

  • N. K. Jemisin gewann als erste Autorin dreimal in Folge den Hugo Award – mit Werken, die Fantasy und gesellschaftliche Sprengkraft meisterhaft verbinden (Die große Stille, Die zerissene Erde).
  • Susanna Clarke (Jonathan Strange & Mr. Norrell) schuf eine literarische Hommage an das England des 19. Jahrhunderts – mit Magie als politischem Werkzeug.
  • Neil Gaiman (American Gods, The Sandman) verwebt Mythologie und moderne Popkultur zu Erzählungen, die längst zur Weltliteratur gehören.
  • Selbst Klassiker wie Mervyn Peake (Gormenghast) oder Hope Mirrlees (Lud-in-the-Mist) zeigen, dass Fantasy eine jahrzehntelange Tradition an literarischer Tiefe und formaler Brillanz besitzt.

Fantasy erschafft keine trivialen Welten, sie entwirft alternative Modelle der Existenz. Sie ist nicht weniger gesellschaftlich relevant als ein realistischer Roman über eine zerbrochene Ehe – nur dass sie oft noch den Mut hat, die großen Fragen des Menschseins mit dem Mittel der Imagination zu stellen.

Das Problem liegt also nicht im Genre.
Das Problem liegt in den Schubladen, die Kritiker und Verlage seit Generationen zimmern.

Wer Fantasy als minderwertig abstempelt, zeigt letztlich nur eines: eine erstaunliche Angst vor dem Unbekannten und eine erschreckende Engstirnigkeit gegenüber dem Möglichen.

Warum Fantasy Anerkennung verdient

Fantasy ist keine Weltflucht. Sie ist eine alternative Art, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Sie erlaubt Hoffnung, Entsetzen, Sehnsucht und Kritik in einer Sprache, die das Unmögliche sichtbar macht.

Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Krisen ist Fantasy nicht kindisch, sondern notwendig. Sie bietet Denkmodelle, Visionen und Warnungen – in Geschichten, die Herz und Verstand gleichermaßen ansprechen.

Fazit

Fantasy ist ein Spiegel, ein Labor, ein Zufluchtsort – aber nie bloß „Kinderkram“. Wer sie belächelt, verkennt die Kraft, die in diesen Geschichten steckt. Und wer sich auf sie einlässt, entdeckt Welten, die oft mehr über unsere eigene sagen als jede Chronik der Realität.


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