Fantasy erklärt: Gender, Queerness und Identität in der Fantasy (Folge 7)

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✈️ Fantasy erklärt: Gender, Queerness und Identität in der Fantasy

Warum das Genre seit Jahrzehnten über sich selbst stolpert und gerade deshalb glänzt

Fantasy war schon immer eine Bühne der Übertreibung. Barbaren mit Muskeln wie Gebirgszüge, großmütige Prinzen mit perfektem Granitkinn, geheimnisumwitterte Frauen mit Magie und Schmollmund, alte Runzelmänner mit Bärten, die halbe Bibliotheken im Kopf gespeichert haben.
Kurz: Jeder durfte etwas darstellen, solange es in die alte Werkzeugkiste passte.

Doch während sich die Welt herum weiterentwickelte, blieb die Fantasy erstaunlich beharrlich. Heldenrollen klebten wie alte Kaugummis unterm Schultisch, Archetypen wurden weitergereicht wie ein vererbter Bierhumpen. Und dann, irgendwann zwischen Le Guin, Hobb und Jemisin, merkte das Genre, dass es eigentlich schon immer etwas konnte, was die Realität oft nicht schafft:

Identitäten neu erfinden. Und zwar radikal.

Ein Elf mit Schwert betritt eine Halle voller schimmernder Portale, in denen unterschiedliche Fantasy Gestalten erscheinen. Jedes Portal zeigt eine andere Identität, vom Krieger über den Schurken bis zur Magierin. Der Boden ist mit glühenden Kreislinien markiert, die wie Beschwörungssiegel leuchten.
Auch das ist Fantasy: Im Spiegelsaal der Fantasie zeigen Charaktere oft jeder mehr Facetten von sich, als ihnen lieb ist.

1. Der Maskenball der alten Archetypen

Wer die klassische Fantasy betritt, landet in einem Museum der Rollenverteilung.

Da steht er, der Held:
Auserwählt, schweigsam, mit der emotionalen Bandbreite eines Ziegelsteins.

Daneben die Frau:
Zauberbegabt, rein, mystisch, oder das genaue Gegenteil, nämlich dämonisch, verführerisch und garantiert tödlich, aber bitte schön anzusehen.

Hinzu kommt der Mentor mit garantiertem Exitus im zweiten Drittel.
Plus der Sidekick, der nur existiert, um den Helden besser wirken zu lassen.

Es ist nicht böse gemeint. Es ist nur alt. So alt, dass selbst uralte Drachenlieder in Tolkiens Fußnoten wie moderner Emocore wirken.

Und, nein, es ist kein Zufall, dass Schwerter im alten Fantasy-Kanon so oft männliche Namen haben.
Die Helden dahinter müssen oft einiges kompensieren.


2. Subversion: Wenn Figuren aufhören, brav zu sein

Spätestens mit den großen Umbrüchen der Neunziger und Nullerjahre bekam das Genre eine neue Stimme. Robin Hobb schrieb verletzliche, gebrochene Helden. Jemisin zerschlug alte Machtgefüge. Addison ließ Geschlecht fließend werden, ohne daraus einen Schild der Moral zu basteln.

Die Fantasy begann, sich selbst zu hinterfragen.
Und das mit erstaunlich viel Style und Originalität.

Plötzlich tauchten auf:

  • queere Magier
  • androgyne Hofgötter
  • Gestaltwandler, deren Identität mehr ist als reine Spielmechanik
  • Frauenfiguren, die weder Heiligtümer noch Sündenfälle sind
  • Männerfiguren, die fühlen dürfen, ohne dass man ihnen gleich die Heldeninsignien aberkennt

Kurz: Die Masken fielen. Und darunter kamen Figuren hervor, die sich endlich wie Menschen lesen, nicht wie langweilige Plotwerkzeuge.


3. Queerness als ästhetische Kraft

Fantasy hat gegenüber allen anderen Genres einen unfairen Vorteil:
Sie arbeitet ohnehin mit Transformation, mit Veränderung, mit Unmöglichkeit.

In einem Genre, in dem man:

  • die Gestalt wechseln
  • man wiedergeboren werden
  • mit Göttern verhandeln
  • Träume essen
  • und Erinnerungen neu schreiben kann

… muss man Identität nicht erklären. Man kann sie einfach erzählen.

Deshalb wirken queere und fluide Figuren in Fantasy oft ehrlicher als in realistischer Literatur.
Sie sind nicht Token, sondern integraler Teil einer Welt, die ohnehin auf dem Prinzip „Alles kann anders sein“ beruht.

Der Witz daran?
Viele Leser akzeptieren Drachen ohne Überprüfung, aber eine nichtbinäre Elfenfigur bringt sie ins Zittern.
Ach ja, Realismus, du guter alter Spielverderber.


4. Identität als Weltmechanik

Die moderne Fantasy geht einen Schritt weiter: Sie macht Identität nicht nur zum Thema, sondern zum System.

Beispiele

R F Kuang – Babel
Sprache ist in diesem Roman nicht Werkzeug, sondern Waffe. Übersetzen heißt Macht ausüben, und Identität entsteht aus dem Spannungsfeld zwischen Herkunft und kolonialem Zugriff.

Brandon Sanderson – Sturmlicht Archiv
Magie funktioniert über Bindungen, Emotionen und innere Wahrheiten. Je klarer eine Figur sich selbst versteht, desto mehr verändert sie die Welt.

Katherine Addison – The Goblin Emperor
Geschlecht, Etiketten und Rollen wirken hier wie atmende Konstrukte, die erst durch soziale Erwartungen Konturen bekommen. Identität ist ein Spiel der Kultur, nicht der Biologie.

N K Jemisin – Die zerbrochene Erde
Macht bestimmt den Zustand der Welt. Emotionen, Unterdrückung und Trauma formen die Erde selbst und zeigen, wie sehr Identität physische Realität beeinflussen kann.

Merke: Wer du bist, beeinflusst, was du kannst.
Und das macht Erzählwelten nicht politisch, sondern einfach nur sehr lebendig.


5. Der Konflikt: Story vs. „Agenda“

Natürlich kochen die Debatten gerne hoch.
Die einen rufen: „Zu politisch!“
Die anderen: „Nicht politisch genug!“

Beides ist meist Unsinn.

Die Wahrheit ist:
Gute Fantasy funktioniert unabhängig von Labeln.
Schlechte Fantasy bleibt schlecht, egal, wer darin vorkommt.

Das Problem ist nie Identität.
Das Problem ist schlechte Schreibe.

Und oft sind diejenigen, die behaupten, queere Elfen seien unrealistisch, dieselben, die kein Problem damit haben, dass ein 400 Jahre alter Zauberer innerhalb von zwei Kapiteln ein Teenager-Mädchen retten muss, weil sonst der ganze Kontinent implodiert.


6. Fazit: Fantasy als Spiegel des Möglichen

Fantasy war schon immer stärker, wenn sie echte Themen durch unwirkliche Kulissen filtert.
Und Identität gehört zu den größten Themen überhaupt.

Nicht weil sie moralisch wichtig ist.
Sondern weil Identität eine Geschichte trägt.

Fantasy kann den Menschen neu entwerfen, ohne ihn zu kennen.
Sie kann Wesen zeigen, die wahrer wirken als reale Menschen.
Und sie kann das, was draußen oft verhindert wird, in Magie verwandeln.

Man muss ja nicht am Ende eines Kapitels immer einen Satz zum Mitnehmen parart haben, aber wenn es einen gibt, dann wäre es gewiss dieser:

Im Reich der Fantasie braucht es keine Normen, nur den Mut zur Verwandlung.

Eine Reihe von Fantasywesen hält leuchtende Identitätskarten über den Köpfen, die ungewöhnliche Eigenschaften zeigen.
Weil kein Charakter auf eine normierte Karte passt. Entweder passt die Karte sich an, oder sie ist aus dem Spiel.

✨ Cliffhanger

Jetzt aber husch, husch, liebe Fantastinnen und Fantasten: Bevor es zu humanistisch wird und wir noch damit anfangen, die Existenz von Götter anzuzweifeln, kündigen wir doch lieber schnell die nächste Folge an:

👉 „Religion und Glaube in der Fantasy: Wenn Götter menschlicher sind als ihre Gläubigen.“

Packt bitte unbedingt eure Weihrauchdosen ein.
Es wird heilig. Und echt seltsam.
Wir lesen uns nächste Woche.


📚 Externer Lesetipp

Ursula K. Le Guin – The Left Hand of Darkness
Ein Klassiker der modernen Phantastik über Identität, Geschlecht und die Grenzen menschlicher Wahrnehmung. Kein Manifest, sondern ein poetischer, philosophischer Roman, der zeigt, wie tief Fantasy über den Menschen nachdenken kann, wenn sie den Mut hat, ihr Bild von ihm zu verändern.


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